: Niedlicher Nackenpuster
40 Jahre Sandmännchen: Seine TV-Premiere war ein Wettlauf der deutsch-deutschen Schlafhilfeprogrammplaner ■ Von Ulf Kalkreuth
Im Vogtland, südlich des Kapellenberges, gab es, lang, lang ist's her, sehr ergiebige Mineralsandvorkommen. Es soll sich dabei um äußerst reinen Mineralsand gehandelt haben. Der eignet sich hervorragend fürs Scheuern von Dielenfußböden und Blechgeschirr. Der Mineralsand musste in schweren Säcken wegtransportiert werden. Das war eine äußerst gesundheitsschädliche Tätigkeit, die auf Dauer unweigerlich irreversible Wirbelsäulenschäden hervorruft.
Die Mineralsandschlepper waren meist arme, kleinwüchsige Männer, die in anderen Bereichen der noch etwas archaisch beschaffenen Volkswirtschaft nicht verwendungsfähig waren. Die Abgerissenheit und Kleinwüchsigkeit der Mineralsandtransporteure wurde also bald noch um einen veritablen Buckel erweitert. Die Kinder in den Dörfern hatten Angst vor diesen Sandmännern, wie sie genannt wurden.
In diese vertrackte Situation grätschte Hans Christian Andersen vorbildlich hinein. Er erfand die Geschichte vom guten Sandmann, der abends auf Socken die Kindern besucht und ihnen allerfeinsten Sand in die Augen streut. Das tut nicht weh, aber es macht müde. Außerdem bläst Sandmann den Kindern von hinten behutsam in den Nacken, davon wird ihnen der Kopf schwer. Sogar bei hyperaktiven Kindern verfängt diese Maßnahmenkombination.
Das war die Ausgangslage. Ungefähr 150 Jahre später, genau am 8. Oktober 1958, sendet der Deutsche Fernsehfunk der DDR (DFF) erstmals eine Abendgrußgeschichte, allerdings noch ohne Sandmann. Ein halbes Jahr später betraut der SFB die Chefin seiner Kinderredaktion, die legendäre Puppengestalterin Ilse Urbrich, mit der Schaffung einer Sandmannfigur. Es sollte also mehr sein als nur eine gewöhnliche Gute-Nacht-Geschichte.
Es dauerte keine fünf Monate, da hatte man ein paar Kilometer weiter beim DFF in Adlershof Wind von der Sache bekommen. Die Idee einer Sandmannfigur wurde in Ostberlin als einseitige Abendgruß-Aufrüstungsmaßnahme des Westens gewertet. „Die wollten uns den Rang ablaufen“, erinnert sich Inge Trisch, Ost-Sandmann-Redakteurin der ersten Stunde. Man reagierte sofort. Heints Adamek, DFF-Intendant, versammelte ein paar Leute aus dem Dresdner Trickfilmstudio und ordnete Gegenmaßnahmen an: die Entwicklung eines eigenen Sandmanns.
Es war Ende Oktober, Anfang November 1959, man wusste, der Westen würde seinen Sandmann in etwa vier Wochen auf Sendung schicken. Gerhard Behrendt, der Vater der Ost-Sandmann-Figur, hatte also wenig Luft und eine gute Idee: „Der Sandmann muss etwas Kindliches haben, aber auch das Merkmal der Weisheit und Würde des Alters tragen.“ Damit war aus Andersens Sandmann ein Sandmännchen geworden. Der Entwurf erschien stichhaltig. Die damals TV-mäßig kaum abgehärteten Kinder würden sich vor einem allein alten und obendrein buckligen Männchen wohl eher fürchten als sich von ihm ins Bett bringen lassen. Ein überdrehter Kasper andererseits, der unmittelbar vor dem Schlafengehen noch mal für ein großes Hallo in den Kinderstuben gesorgt hätte, wäre pädagogisch komplett wertlos gewesen. Man arbeitete fieberhaft, die Sandmann-Melodie etwa wurde in nur einer Nacht komponiert.
Am 22. November 1959, vor genau 40 Jahren, war es soweit: Um 18.55 Uhr ging der Sandmann Ost auf Sendung, per pedes. Er hatte einen Umhang mit Sternen, ein Sandsäckchen, oben an seiner Kopfbedeckung war ein etwas merkwürdig ausschauender Puschel angebracht, dadurch ging sein Hütchen glattweg als Schlafkappe durch. Und Sandmanns Blick war durch dichte Wimpern und Augenbrauen etwas getrübt, er schaute einfach müde drein. Darüber hinaus lehnte sich das Sandmännchen nach vollbrachter Geschichtenpräsentation und Sandausbringung an eine Hauswand, sank langsam an ihr nach unten, saß schließlich auf dem Bürgersteig und schlief völlig erschöpft ein. Der Sandmann der Deutschen Demokratischen Republik: ein Penner, der auf der Straße nächtigt, mitten im November.
Noch ehe Walter Ulbricht einschreiten konnte, kam eine Flut von Briefen an, die dem Sandmann gerührt Quartier anboten. Der Sandmann wurde leicht geändert, dunkle muntere Knopfaugen, Puschel weg, und ein Fuhrpark wurde aufgebaut. So konnte er im Laufe der Dekaden mit über 200 verschiedenen Vehikeln quasi aus dem Nirgendwo ankommen und ins Irgendwo abreisen.
Neben den rein praktischen Funktionen des Sandmanns – Geschichten mitbringen, für Ruhe und Ordnung sorgen und Vermittlung von „Motiven aus der Arbeitswelt“ (Sandmann-Entwurf, DFF 1964) – beförderte dieses geisterhafte Einschweben des Sandmännchens aus dem Nichts seine Mystifikation erheblich. Alsbald löste sich ein Mythos ab von der rein dinglichen Erscheinung des Sandmanns. Die Figur entwickelte derartigen Kultstatus, dass der tägliche Sendetermin 18.50 Uhr sakrosankt wurde. Nur sehr geringe Veränderungen erlaubte man sich. Drei Sandmann-Auftritte wurden als Instrumentalfassungen hergestellt, weil im Falle des Ablebens hochgestellter Angehöriger der Diktatur des Proletariats Sandmännchens obligatorischer Gesang: „Kinder, liebe Kinder, das hat mir Spaß gemacht!“ den Tatbestand der staatsfeindlichen Agitation erfüllt hätte.
Am 1. 12. 1959 – acht Tage nach dem Ost-Sandmann – ging der West-Sandmann auf Sendung. Von einer etwas leierigen Musik begleitet, die an einen Remix-Versuch eines Motivs aus Tschaikowskis Nußknackersuite erinnerte, kam ein Greis mit einer Laterne in der Hand hinter einem Geräteschuppen hervor. Als Kulisse war eine etwas dunkle Berg- und Waldlandschaft auf Pappe gemalt. Den Erwachsenen muss all das ein bisschen billig erschienen sein, den Kindern einigermaßen unheimlich. Von diesem Greis, der bei lebhafter Fantasie eher wie der als Sandmännchen verkleidete Tod persönlich aussah, hätte sich wohl kein Kind gern in den Nakken blasen lassen. Siehe Hans Christian Andersen. Auf der Laterne stand: „Sandmännchens Gruß für die Kinder“. Nach einer Weile verschwand der Sandmann wortlos im Geräteschuppen – die Kinder waren nicht hineingebeten. Ein Sprecher verkündete, dass das Sandmännchen nun seine Abendsuppe essen werde, Brotsuppe. Irgendwie war es das noch nicht.
1962 kam ein neues West-Sandmännchen an den Start. Entwickelt von Herbert K. Schults, der aus dem Dresdner Puppenfilmstudio kam und sich vorm Mauerbau nach Westberlin begeben hatte. Beide Sandmänner hatten so ihre Probleme: Das DDR-Sandmännchen durfte wohl reisen (junge, links orientierte afrikanische Nationalstaaten, Weltall, Bagdad), aber es musste sich auffallend viel an gesellschaftlichen Höhepunkten des DDR-Lebens beteiligen, in ständiger Arbeiterklasse-Tuchfühlung, und Sandmann musste sogar bei der Nationalen Volksarmee als Angehöriger der Rückwärtigen Dienste antreten.
Legendär sind auch die Geschichten, die das DDR-Sandmännchen teilweise präsentieren musste. Erinnert sei nur an Brummel, der mit Frau Puppendoktor Pille auftrat und wirklich ein kleiner Schleimscheißer und Anpasser vor dem Herrn (respektive vor Frau Pille) war und später garantiert ein fieser Stasi-IM. In Erinnerung ist auch der Teddy Bummi, der Freund von Pitti und Schnatterinchen, der eines Tages auf Besuch nach Moskau geschickt wurde. Im Austausch kam aus Moskau Bärchen Mischka. Eine unangenehme, besserwisserische Erscheinung. Bummi kehrte nie mehr aus Moskau wieder, während Mischka sich bei Pitti und Schnatterinchen einnistete und die Atmosphäre im Märchenwald systematisch vergiftete.
Das West-Sandmännchen hatte es auch nicht leicht. Obwohl es die viel schöneren Abendgruß-Geschichten präsentieren durfte, wurde es selbst aber neben seiner nach wie vor dürftigen Erscheinung recht stiefmütterlich behandelt. Eingekeilt in Werbeblöcke waren die Auftritte billig, knapp und lieblos. Sandmann fand immer nur verlassene Kinderstuben und Wohnungen vor. Es schien so, als wenn alle den Ort gerade fluchtartig verlassen hätten. Die aufwendige Animation weiterer Figuren hätte aber weitaus mehr gekostet. Nur einige ARD-Anstalten strahlten den Sandmann, der ab 1962 vom NDR hergestellt wurde, in ihren dritten Programmen überhaupt aus. Der Bayrische Rundfunk hielt Fernsehen für Kinder sowieso für Teufelskram.
In den 80er-Jahren begann ein langsames Sterben des Sandmanns. 1993 verschwand er endgültig aus der Südkette (SWF, SDR und SR). Kaum Proteste. Das Ost-Sandmännchen hat – obwohl es ja durch ein gewisses opportunistisches Auftreten irgendwie ein bisschen schuldig geworden war – Wende und DFF-Abwicklung dank eines Beinahe-Volksaufstandes überlebt. Warum? Weil es einfach niedlicher ist als sein Westkollege. Und Niedlichkeit ist eine vollkommen ideologieresistente Kategorie.
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