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Die Innenwelt der Außenwelt der Binnenwelt

Pittoreskes Schwarzweiß und verlassene Gebäude in Endzeitstimmung. „Wege in die Nacht“ von Andreas Kleinert ist ein elegischer Abgesang auf den Osten und eine Reise ins frustrierte Herz eines ehemaligen Kombinatshelden  ■   Von Claudia Lenssen

Ein Mann liest Stellenanzeigen, füttert den Hund, raucht endlos Zigaretten, starrt ins Leere. Er hat kein Geld in der Tasche, lässt sich von seiner kellnernden Frau nichts zustecken, kann nicht auf ihre besorgten Fragen antworten. In „Wege in die Nacht“ spielt Hilmar Thate diesen Verlierer ohne Wohnküchenrealismus. Er ist ein gut aussehender Sechziger, der um die Nuancen in seinem zerfurchten Profil weiß und mit dunklen Blicken, dem Zucken seiner Unterlippe und festem Handgriff einem namenlosen Frust Ausdruck gibt.

Die Schauspieler in diesem Film tun Dinge, die in sich selbst stimmig sein müssen, andernfalls wären sie bloß kokett und sentimental. Thate zum Beispiel schaut man beim einsamen Apfelernten zu, Cornelia Schmaus als seine Frau Sylvia wartet weinend hinter einem Fenster. Henriette Heinze, die junge Gina in Thates Begleitung, springt vor lauter Temperament beim Laufen in die Höhe. Bei Andreas Kleinert haben die Schauspieler Zeit und sind gefragt, ihre Figuren mit kleinen unverwechselbaren Besonderheiten auszustatten. Wie schon in „Neben der Zeit“ (1995) spielen jene Emotionen eine wichtige Rolle, die sich in Körpersprache, nicht in Worten ausdrücken.

Leere Landschaften mit verlassenen Gebäuden faszinieren Kleinert. In „Neben der Zeit“ ist ein verlassener russischer Militärflughafen der verrückte Treffpunkt für ein deutsch-russisches Liebespaar, in „Wege in die Nacht“ zieht es den Verlierer Walter immer wieder zu der Betonruine eines Kombinats im Berliner Umland. Wieder erzählt Kleinert von Außenseitern, die sich in Umbruchsituationen in eine Binnenwelt zurückziehen, diese aber in ihrer Angst vor Veränderung selbst zerstören.

Schwarzweiß sind die „Wege in die Nacht“ – aber sie sind nicht in realitätsnahen Grautönen gefilmt, sondern wurden von Kameramann Jürgen Jürges in hyperbrillanten, raffiniert ausgeleuchteten Bildern dramatisch aufgeladen.

Die Schauspielerarbeit und das pittoreske Schwarzweiß, die ganze liebevolle Zuarbeit zum Regiekonzept machen den Film sehenswert. Aber was passiert da eigentlich?

Der arbeitslose Walter zieht nachts mit zwei jungen Kampfsportlern durch die S- und U-Bahnen von Berlin. Auf seinen Augenwink hin greifen sie ein, wenn Fahrgäste belästigt, überfallen, gedemütigt werden. Den melancholischen Szenen um Walter und seine Frau ist eine Nachtwelt entgegengestellt, die das Drama vorantreibt. Nicht das öde Warten auf den gerechten Zoff wird erzählt, sondern wie es direkt knallt. So folgen die S-Bahn-Szenen einem kalten Actionmuster: Wo das Trio auftaucht, sind die kriminellen Pöbler schon am Werk, und es greift wortlos, schnell und brutal zu. Der Mangel an Zivilcourage von Mitreisenden erscheint eher als Leerstelle in der Inszenierung. Komparsen sitzen herum, die weder Angst noch Feigheit überzeugend darstellen.

Alles konzentriert sich auf das Trio. Die aufmüpfige Gina beginnt am Sinn des privaten Einsatzkommandos zu zweifeln, sie stellt die unangenehmen Fragen, als Walter einen Randalierer zwingt, aus dem Zug zu springen, und – schlimmer noch – als er von einem Wachmann als Genosse angesprochen wird. War Walter, der relativ sympathische, aber darum nicht weniger faschistoide Führer des Trios, ein „Bonze“?

Man sieht im Film nicht, ob der Genosse einst Direktor der Fabrik war, auch nicht, was da produziert wurde. Man sieht, dass er schießt, als Gina ihm misstraut. Man sieht in einer düsteren Partyszene, dass er mit seinen kapitalistisch gewendeten Ex-Genossen nichts anfangen kann, aber auch, dass er bei seiner Frau alles wieder gut machen will – mit einer geraubten Perlenkette. Wie soll aus einem depressiven Rächer ein Schmuckräuber mit Durchhaltevermögen werden? Die Sache muss letal ausgehen am pittoresken Endzeitort Betonruine.

Hilmar Thate sagt, dass er die Figur verändert habe: Aus einem ehemaligen Stasi-Mann im Drehbuch, der als selbst ernannter Führer einer Sicherheitstruppe scheitert, ist bei ihm ein tragisch obsessiver Antiheld geworden. Die Stasi-Variante hätte vielleicht einen Politkrimi versprochen, so ist ein archaisches Drama aus der Geschichte geworden. Um dieses wirklich zu mögen, muss man akzeptieren, dass die Kombinatsruine einst der Himmel war, aus dem der Held verstoßen wurde. „Wege in die Nacht“. Regie: Andreas Kleinert. Mit: Hilmar Thate, Cornelia Schmaus, Henriette Heinze, Dirk Borchardt, Ingeborg Westphal u. a. Deutschland 1999, 98 Min.

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