Der gläserne Straßenbaum

Dieter Meyrich sorgt dafür, dass dem Bürger keine Eiche vor die Füße fällt  ■ Von Gernot Knödler

Der rosa Punkt ist das Mal des Todes. Dieter Meyrich appliziert es aus einer überlangen Sprühdose, die er neben anderem Werkzeug in einem großen schwarzen Aktenkoffer verstaut hat. Mit einem Handbohrer, der sich zu einem halbmeterlangen Stab zusammenfalten lässt, zieht der Gartenbauingenieur Proben aus kranken Baumstämmen; mit der faltbaren Hippe, einem großen Taschenmesser mit sichelförmiger Klinge, pult er Pilze aus dem Holz, und um den Umfang eines Baumstamms zu bestimmen, kann er ein spezielles Maßband ausrollen: Meyrich braucht nur ein Segment des Kreisbogens zu messen, und das Maßband zeigt ihm den gesamten Umfang an.

Dieter Meyrich ist, zusammen mit einem Kollegen, im Bezirk Altona für das Fortschreiben des Straßenbaumkatasters zuständig. In dem 1986 angelegten Verzeichnis sind alle 222.000 Straßenbäume Hamburgs aufgeführt, ein ergänzendes Parkflächenkataster ist zur Zeit in Arbeit. Im Schubladenschrank des Nachbar-Büros hat Meyrich noch die alten Stadtpläne liegen, in denen jeder Baum mit einem kleinen Kreis und einer Nummer verzeichnet war. Korrespondierend gab es Computerlisten auf grün-weiß-gestreiftem Druckerpapier mit den Lebensdaten der Bäume.

„Das haute alles irgendwie nicht hin“, sagt der Ingenieur rückbli-ckend. Das System sei schwer handhabbar und umständlich gewesen. Mitte der neunziger Jahre setzten sich die Straßenbaum-Verantwortlichen der Bezirke mit einer Software-Firma zusammen und entwickelten GIS-STRAKA: das „Geo-Informatios-System Straßenbaum-Kataster“.

Ein wunderbares Spielzeug: Mit einem halben Dutzend Mausklicks holt sich Meyrich eine beliebige Straßenecke auf den Bildschirm. Rot sind die Häuser, schwarze Linien markieren die Grenzen von Straßen und Grundstücken, verschieden große grüne Punkte mit einem Kreuz oder Kreislein in der Mitte zeigen die Position der Bäume – auf den Zentimeter genau.

Das ist wichtig, denn der Mann vom Bezirk muss feststellen können, ob ein Baum ganz oder teilweise auf öffentlichem Grund steht. Falls ja, muss die Stadt haften, wenn der Baum umfällt, und Meyrich soll das verhindern. Dass sich der hagere Mann mit dem graumelierten Vollbart diese Arbeit nicht leicht macht, führt er in der Straße Dornstücken in Groß Flottbek vor.

Hinter einer niedrigen Absperrung schiebt eine große alte Eiche ihre Krone in den Himmel. Ende November trägt sie noch die meisten ihrer Blätter, doch der Anblick ihres Fußes macht einen schwindlig: Direkt über dem Erdboden fehlt das Kernholz völlig. Der morsche Teil ist sauber ausgesägt, der offenliegende Rest grau angemalt worden. Der mächtige Baum stützt sich allein auf den nährstoffführenden Ring hinter der Rinde und das wie auf Stelzen, weil ihn parkende Autos an so vielen Stellen verletzten.

Die Eiche in Dornstücken ist einer der Problemfälle, die sich der Mann von der Gartenbauabteilung nicht alleine zu entscheiden traut. „Wenn ich im Zweifel bin, hol' ich mir Baumpfleger dazu“, erzählt er. Diese wiederum lassen für die ganz harten Brocken einen Professor aus Stuttgart einfliegen. Mit einem selbst entwickelten Computer-Modell habe der die komplizierte Statik der alten Eiche berechnet, sagt Meyrich. Bis auf Weiteres darf sie stehen bleiben.

Meyrich lässt Straßenbäume mit Bügeln schützen, er lässt sie beschneiden und er hat auch schon viele umsetzen lassen. Aus dem fahrenden Auto heraus kann er jeden von ihnen zeigen. Doch trotz seiner Anstrengungen und denen seiner Kollegen in den anderen Bezirken müssen jedes Jahr viele Bäume gefällt werden. Nach einer Mitteilung der Umweltbehörde sind es allein im Bezirk Nord derzeit 200, die mit dem rosa Punkt versehen sind, an 800 muss totes Holz weggeschnitten werden. Von mehr als 8800 Bäumen, die in Eimsbüttel untersucht wurden, müssen 160 gefällt und 1000 operiert werden.

Zwar sind auch alle 22.644 Straßenbäume Altonas registriert worden, nur bei 2760 wurde jedoch der Gesundheitszustand erfasst. Immer wenn er unterwegs ist, hat Dieter Meyrich deshalb seinen Pen-Computer dabei – eine Art großen Newton zum vor den Bauch hängen und mit dem Stift drauf rumtippen. Hier trägt der Gartenbauer ein: Schäden, wie eingefaulte Wunden, tote Äste, Risse im Stamm und alte Gewindestangen, die ihn am Auseinanderbrechen hindern. Er notiert, ob den Stamm eine „Baumscheibe“ – ein Stückchen freie Erde – umgibt, ob er mehrere Stämme hat und was an dem Baum mit welcher Dringlichkeit zu tun ist.

Zu schaffen machen den Straßenbäumen Chemikalien wie Streusalz oder Seifenlauge, aber auch die Hektoliter Hundeurin, die so mancher von ihnen schlucken musste. Die Lagerung schweren Baumaterials drückt auf die Wurzeln, in Wunden am Stamm setzen sich Pilze, die der Baum nie wieder los wird. 1995 wertete die Umweltbehörde Infrarotluftbilder auf Baumschäden hin aus: Bei 68 Prozent konnten die Spezialisten zumindest an der oberen Krone keine Schäden erkennen. „Ich hab' eigentlich nicht mehr zu fällen als 1980“, sagt Meyrich.

Seine Spezialität ist die Rubrik „Bemerkungen“. Dort notiert er die Geschichte eines Baums. Die, die er in den vergangenen zwanzig Jahren selber miterlebt hat, und die, die ihm die Leute auf der Straße erzählen. So kann er später feststellen, auf wessen Druck welcher Baum gepflanzt oder gefällt wurde, und dabei das politische Hüh und Hott dokumentieren. Auch unerquickliche Baum-Wahrheiten treten dabei zutage – etwa die des alten Mannes, der ihn angesichts einer Reihe stattlicher Bäume beschied: „Das sind doch die Nazi-Eichen!“

Das gesammelte Wissen speichert der Pen-Computer auf einer Chip-Karte im Scheckkarten-Format. „Das ganze Kataster ist auch da drin“, sagt Meyrich stolz. Die Chip-Karte steckt er im Büro in den großen Rechner. So hat er die aktuellen Daten stets beieinander, wenn er mit der Maus über den Stadtplan wandert.

„Ich kenne meine Bäume“, behauptet Meyrich. Er beweist es, indem er einen beliebigen Straßenzug großzoomt. „Das sind alles Kastanien“, sagt er. „Das ist eine riesige Eiche, das sind alles Linden.“ Andersherum ist es schon schwieriger: Das Computer-Katas-ter kann die Bäume zum Beispiel bis zurück auf das Jahr 1770 nach Pflanzdaten sortieren. Auswendig weiß auch Meyrich nicht, wo so ein Baum stehen könnte. Der Computer zeigt uns das Stückchen Stadtplan: Vor der Ansorgestraße 20 wächst der älteste Baum Altonas, eine Stieleiche.