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Die Zukunft ist nah

Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerks „Franz Stenzer“ (RAW) versuchen sich diverse Kulturinitiativen in der Ausbildung von neuen Kollektivitäten und Individualitätsmustern  ■   Von Helmut Höge

Das ganze Projekt strahlt einen durch Kunst und Kultur geförderten „Autonomismus“ ab

Neulich sollte ich zusammen mit Wladimir Kaminer eine Soli-Lesung im „Raw-Tempel“ bestreiten. Dabei handelt es sich um das Verwaltungsgebäude des von der Bundesbahn nahezu aufgegebenen Reichsbahn-Ausbesserungswerks „Franz Stenzer“ an der Warschauer Brücke in Friedrichshain: RAW. Zuletzt fanden dort Narva-Belegschaftsversammlungen und Bezirksverordnetenversammlungen statt.

Nun hat ein Betreiberverein das Gelände spottbillig gepachtet und auch schon einen neuen Stromanschluss legen lassen. Sein Büro gibt die Raw-Informationen heraus. Im Gebäudeensemble haben sich diverse Kunst- und Kulturinitiativen angesiedelt – allesamt mit kreativen Namen: Workstation, Virtuartisten-Denkraum, Stephanie Theurer – Mode, Sonic Dream Familiy, Faulwasser, Roots-Promotion, Fehler Pan Tappert, die Artisten-Vereinigung zur Aufhebung der Schwerkraft, das afrikanische Kulturzentrum Shrine, ein Gewerke-Zusammenschluss sowie ein Ambulatorium – das so genannte Vereinscasino. Mir scheint, die organisatorisch-künstlerischen Fäden laufen dort bei Bibiena zusammen.

Die Holländerin besetzte einst das riesige Lagergebäude am Hafen von Amsterdam in der Konradstraat mit. Bei der Räumung durch die Polizei ging es in Flammen auf. Bibiena besitzt noch einen angekokelten Billigroman aus dieser heroischen Periode. Mir vermittelte sie einen neuen Begriff von Kulturmanagement. Das gilt auch für einige Frauen aus dem Hanf-Museum im Nikolaiviertel, die sich dort eingeklinkt haben. Insgesamt kann man vielleicht sagen, dass das gesamte „Projekt“ so etwas wie einen durch Kunst und Kultur gefilterten „Autonomismus“ abstrahlt. Wie es umgekehrt auch die durch den Autonomismus herausgeforderten Kunstprojekte – b-books, pro qm, dogfilm, baustop. randstadt etc. – gibt. Dazu passt Bibienas Einschätzung, dass es gelte, die durch Ecstasy und Techno-Clubs entpolitisierten Jungmenschen wieder aufzurütteln. Wobei sie sich wohl bewusst ist, dass diese sich ebenfalls zwischen „Kunst, Kommerz und Sozialhilfe“ irgendwie austarieren, wie eine der neuen Berlinromanschreiberinnen das gerade ausdrückte. Wladimir schlug im RAW-Tempel zunächst eine Diskussion vor – über „die nahe Zukunft“. Wobei er noch einmal auf seine Thesen von der Demokratie als befreiende Mangelerscheinung und dem Ende der hehren Kunst zu sprechen kam. Er erntete bloß weitere Grundsätzlichkeiten, vermischt mit nachdenklichen Buddhismen.

Ich vermutete: Seine Publikations- und Auftrittserfolge langweilen ihn bereits derart, dass er sich nun langsam in allgemein gültige Gesellschaftsanalysen stürzen will. Dabei scheinen seine Texte bester Beweis dafür zu sein, dass derzeit eher die sich dekollektivierenden Einzelschicksale aufschlussreich sind.

Zur Diskussion dieses einst von den Meta-Franzmännern „Ein Klein-Werden Schaffen“ genannten „Mega-Problems“ versammelte der ehemalige taz-Feuilletonchef Harry Nutt gerade einige große westdeutsche Soziologen um sich. Heinz Bude sah es dabei als seine vornehmste Aufgabe an, in den neuen „Individualitätsmustern“ die „Chancen und Risiken“ auszuloten. Peter Gross sprach von der „Ich-Jagd“, die immer neue „Selbstbeschreibungen“ – von Mini- und Subsub-Gesellschaften – „aus sich heraus“ treibe, weswegen es eine „eigentliche“ Beschreibung nicht mehr geben könne, von Theoriebildung ganz zu schweigen. Claus Offe hielt der Vervielfachung individueller „Optionen“ das Verschwinden der kollektiven Optionen entgegen.

Auch in den wirtschaftlichen „Spitzenpositionen“ könne nichts mehr bewegt werden, besonders die Politik „tut nur so, als ob sie etwas täte“. Bude erinnerte die derzeitige Gesellschaftsveranstaltung an ein „Tanzlokal“, wo nun zwar freie Partnerwahl herrsche, „aber immer mehr bleiben sitzen“. In einer solchen „Freiheit“ käme es darauf an, statt Despoten „ausrastende Kleinbürger zu pazifieren“.

Für Offe kommt es jedoch eher darauf an, „Handlungsfähigkeit jenseits der Handhabung von Kreditkarten in Supermärkten wieder herzustellen“.

Er mag dabei an neue Kollektivitäten gedacht haben, Bude blieb jedoch beim „unternehmerischen Einzelnen: ein Virtuose des Kombinierens von Erwerbseinkommen, Sozialbeziehungen und Zukunftsentwürfen“ – kein „Künstlerideal, sondern Modell einer Alltagsmoral“. Wobei anscheinend der selbstständige Künstler mehr und mehr die soziale Idealform bildet, bei gleichzeitigem Obsoletwerden der Kunst – was übrig bleibt, ist „raw“!

P.S.: Der nunmehrige FR-Feuilletonchef Harry Nutt bot Wladimir Kaminer gerade eine Art kollektive Alltagskolumne an, wozu diesem sofort der Arbeitstitel „Künstlerleben“ einfiel. Ich votierte dagegen für „Künstlersozialkasse“: Was zum Beispiel allein die deutsch-russische taz-Autorin Lilli Brand anstellen musste und noch muss, um in die Wilhelmshavener KSK aufgenommen zu werden, damit ließen sich bereits zwei Dutzend Kolumnen locker füllen.

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