: EU will über Russland nachdenken
■ Debatte über Sanktionen gegen Moskau beim EU-Gipfel zu erwarten. Russlands Militär widerspricht Regierung hinsichtlich einer Rücknahme des Ultimatums gegen Grosny
Berlin/Moskau (AP/dpa/rtr) Der russische Krieg in Tschetschenien stößt auf wachsende internationale Kritik. Zwei Tage vor dem EU-Gipfel in Helsinki sprach sich EU-Kommissionspräsident Romano Prodi gestern dafür aus, über mögliche Sanktionen gegen Russland zu diskutieren. „Wir sollten darüber sprechen, was eine Sanktion ist, und über die Konsequenzen von Sanktionen“, sagte Prodi in Brüssel. „Ich denke, es wird eine tiefe und ausführliche Diskussion über Tschetschenien geben.“
Der schwedische Verteidigungsminister Björn von Sydow sagte eine für gestern geplante Reise nach Russland aus Protest gegen die Behandlung der Zivilbevölkerung in der Tschetschenien-Offensive ab.
Die Bundesregierung kritisierte gestern die Militäraktionen Russlands in Tschetschenien als völkerrechtswidrig. In einer Botschaft an die russische Regierung machte Bundeskanzler Schröder nach Angaben aus Berlin klar, falls Russland seine ultimative Drohung gegen die Bevölkerung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny umsetze, werde das Verhältnis Moskaus zur EU belastet. Dann könne es kein „business as usual“ mehr geben. Es müsse eine politische Lösung unter Einbeziehung der gewählten Regierung Tschetscheniens geben.
Unklarheit herrschte unterdessen über eine mögliche Verlängerung des russischen Ultimatums an die Bevölkerung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, die Stadt bis Samstag zu räumen oder getötet zu werden. Während Ministerpräsident Putin am Dienstagabend bekannt gab, das Ultimatum sei auf unbestimmte Zeit verlängert worden – eine auf Druck Joschka Fischers bei einem Treffen mit Russlands Außenminister Igor Iwanow gemachte Ankündigung, wie das Bundesaußenministerium gestern sagte – hielt das Militär gestern offenbar an dem Ultimatum fest. „Uns liegt keine Information über eine Änderung der Frist (für das Ultimatum) vor“, sagte ein Militärsprecher in Mosdok zu anders lautenden Berichten westlicher Fernsehsender. Der Kommandeur der russischen Streitkräfte in Tschetschenien, General Viktor Kasantsew, erklärte, das Ultimatum gelte noch immer. „Das ist eine Warnung an die Banditen; die Frist wurde für sie gesetzt“, sagte er. Schätzungen zufolge halten sich noch 15.000 bis 40.000 Zivilisten in Grosny auf; die meisten dürften zu alt, krank oder verängstigt sein, ihre Schutzräume zu verlassen.
Die russische Armee startete außerdem einen Großangriff auf die tschetschenische Stadt Urus-Martan. Nach eigenen Angaben erzielte sie Erfolge. Der Fernsehsender NTW wies jedoch Berichte zurück, wonach die russischen Truppen Urus-Martan bereits unter Kontrolle hätten. Es gebe weiterhin Kämpfe in der Stadt. Durch Urus-Martan führt die wichtigste Verbindungsroute von Grosny in den Süden Tschetscheniens. Mit der Einnahme von Urus-Martan würde Moskau seinem Ziel näher kommen, die Hauptstadt Grosny ganz zu umstellen.
Der Internationale Währungsfonds stellte Russland fünf wirtschaftspolitische Bedingungen für die Auszahlung einer weiteren Rate eines 4,5-Milliarden-Dollar-Kredits. IWF-Chef Michel Camdessus dementierte, dass die Rückhaltung der Tranche von 640 Millionen Dollar mit dem Tschetschenienkrieg zusammenhänge.
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