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Die Dörfer um Weimar herum

Die Sehnsucht nach dem Unverfälschten und nach der Kunststudentin Julia trieb den Maler Lyonel Feininger nach Weimar. Eine Tour zu Feiningers Dorfkulissen und dem Kirchlein mit Schieferturm    ■ Von Johannes Winter

Um acht Uhr früh, frohlockend, zog ich hinaus auf dem Rad, auf Abenteuer, ganz gemächlich, ganz ruhig und langsam. Ich kam sehr weit, bis zum Rande, oben links, meiner Karte von Weimar und Umgegend!“ Feininger heißt der Fremdenführer. „Ich zog im Zickzack von einem Ort zum anderen und habe über zwanzig neue Ortschaften passiert. Also Bilder, Bilder habe ich unterwegs gesehen!“ Es ist der Maler Lyonel Feininger, und seine ganze Leidenschaft galt der Landschaft um Weimar.

„Der Horizont schmolz im Ätherdunst, und eine Kirchturmspitze hinter der anderen im weiten Land tauchte hervor. Sie haben so viele Dörfer! Und jedes hat eine Kirche, und die meisten sind gelb mit Schieferspitze.“

Weimar – im großen Jubeljahr mit Goethe-Geburtstag, Bratwurst und Kulturhauptstadt-Spektakel – wirft nicht nur Schatten. In seinem Licht ist auch ein Landstrich zu entdecken, der auf den ersten Blick so gar nichts Spektakuläres aufzuweisen hat. Thüringische Dörfer zwischen Feldern und Hügeln – dem deutsch-amerikanischen Maler haben sie es angetan. Warum? Feininger hat hier sein Herz verloren.

In New York geboren, nach Deutschland, der Heimat seiner Eltern, zurückgekehrt, entdeckte er irgendwann das Dorf mit seinen Kirchen, Brücken und Häusern. Magnetisch fühlte er sich angezogen von dörflicher Architektur, wie sie in Thüringen und anderswo zwar hundertfach vorkommt. Doch Feininger geriet in helles Entzücken, stand er in Vollers oder Gelmeroda, Eichel- oder Süssenborn, Umpfer-, Zottel- oder Buttelstedt, Gabern-, Daas- oder Possendorf, Schell- oder Kiliansroda „im letzten Sonnenstrahl eines sterbenden Septembertages“, so als sei ihm die Kuh- und Köteridylle unterm Kirchturm eine stete Erleuchtung. Ganz einfach, der junge Lyonel war verliebt!

Julia hieß die Kunststudentin, in die sich der Berliner Karikaturist verguckt hatte. Eilte ihr nach aus der Weltstadt in die grüne Provinz. Und schon bald schloss seine Liebe auch die Käffer rund um den Musensitz Weimar ein.

1906 kam Feininger zum ersten Mal an die Ilm, 1919 wurde er „Meister der Form“ am eben gegründeten Bauhaus, und bis zu seinem Tod, über fünfzig Jahre, hielt die Begeisterung für die Dörfer im Weimarer Land. Selbst noch im amerikanischen Exil nach 1937 inspirierte ihn künstlerisches Heimweh zu einem nicht geringen Teil seines Oeuvres. Weimar, des Malers „kleine Märchenstadt“, Ort von „Glück“ und „Lebenswunder“, zog ihn an und trieb ihn zugleich hinaus in die nahe, kleine Welt, „so recht mein Land“. Hier lebte er seine „Sehnsucht nach dem Unverfälschten“ aus. Kaum saß er vor einer Dorfkirche, auf den Knien den Notizblock, schon war sie „in mein Herz und Liebe aufgenommen. Ein richtiger kleiner Gebirgsort, steilste, unradelbare Straßen und malerische alte Häuser staffelweise neben- oder übereinander und zuletzt die Kirche!“

Hier ist der Karikaturist zum Maler geworden.

Täglich zog er los, mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß. Kein Wunder, dass die Kulturhauptstadt eine Fahrradtour „Auf Feiningers Spuren“ im Angebot hat. Der Blick des Malers ist wie ein Wink, zwischen Zaunpfählen radelnd, auf seiner Augenweide zu wandeln. Auf nach Gelmeroda!

Der Weg geht bergan, nach Süden, so steil wie zu Feiningers Zeiten, aber er ist „radelbar“, am Kirschbach entlang und abseits der Landstraße. Niedergrunstedt passieren wir. Doch das Ziel ist Gelmeroda. Im Vordergrund, mitten im Dorf, ein Kirchlein mit überaus spitzem Schieferturm. Es ist sein Motiv schlechthin! Das winzige Gotteshaus von Gelmero- da kam für Feininger lebenslang an zweiter Stelle, gleich hinter Julia.

Ununterbrochenes Brummen und Rauschen liegt über dem Dorf, dringt von der Autobahn A 4 Erfurt – Dresden herüber. Sie ist es, die dem weltberühmten Feininger-Sujet eine neue Aufgabe eingebracht hat: als bundesdeutsche Autobahnkirche Nr. 8. Doch auch im frisch renovierten Kirchlein herrscht keine Stille. Kunsttouristen beten nicht. Sie sind wissbegierig, staunen gern oder studieren Info-Tafeln oder Prospekte. Im Feininger-Katalog ist der gotische Bau unangefochten an der Spitze, mindestens dreizehnmal verzeichnet, zwischen 1906 vor Ort und 1955 in Manhattan, als Bleistiftskizze, Ölbild, Aquarell, Tuschzeichnung oder Holzschnitt.

Die Turmuhr, eine helle Holztafel mit schwarzen Zeigern, bleibt stumm. Das kleine Gebäude mit seinem markanten Spitzhelm hielt für Feininger offensichtlich eine kräftige Portion Magie bereit, war ihm sogar „das Mystischste, was ich von den so genannten Kulturmenschen kenne“, denn schon zwei Tage nach seinem ersten Besuch im Juni 1906 kehrte er wieder und fertigte erneut etliche „Natur-Notizen“ an, Vorlagen für die Arbeit im heimischen Atelier. „Nachmittags krabbelte ich nach Gelmeroda, eineinhalb Stunden herumgezeichnet, immer an der Kirche, die wundervoll ist.“ Gelmeroda – der Mont Ste.Victoire Feiningers. Der Künstler umkreiste sein Objekt, ließ nicht von ihm ab, verschob seinen Klappstuhl etliche Male, bis er es von Norden, Osten wie Südosten in seinen Block gebannt hatte. Auch wir kehren zurück, weit nach Sonnenuntergang. Feiningers Leitmotiv gibt nämlich jeden Abend der glänzenden Kulturhauptstadt unten im Tal einen Streifen des Lichtes zurück, das Weimar auf sein Umland wirft. Eine Lichtskulptur verwandelt das Kirchlein von Gelmeroda in ein strahlendes Kunstwerk.

Die Fahrradtour, das lernen wir bald, führt über öde Dörfer. Keine Märchenwelt. Das mag vor neunzig Jahren nicht anders gewesen sein. Sechzig solcher Orte rings um sein „Weimarlein“ hat der Maler mit Notizblock und Stift, Zigarre und Klappstuhl aufgesucht. Wir belassen es bei den beiden -rodas. Wer sich angesteckt fühlt, wer gar wallfahren oder bei Oldtimer-Touren mitmachen will, besorge sich den Katalog „Feininger im Weimarer Land“, gesammelte Bilder einer Ausstellung. Im Kunsthaus Apolda, nicht weit von Weimar, war den Sommer über alles aus der Region zu sehen, die inzwischen als „Feininger-Land“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist.

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