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Wetten als Stabilitätsfaktor

Wenn neoliberale Modernisierung so verlockend wie rheinischer Kapitalismus ist, bedeutet politische Klugheit das Bedienen des Widerspruchs. So werden der Gesellschaft die Felder des Umbruchs markiert ■ Von Dirk Baecker

Die Wirtschaft wird nicht mehr bereit sein, irgendetwas anderes zu finanzieren als den eigenen Erfolg

Vielleicht war die Politik in Deutschland noch nie so klug wie in den so widersprüchlichen und verwirrenden Monaten am Ende dieses Jahrhunderts. Hin- und hergeworfen zwischen den unterschiedlichen Ideen auf dem Konzeptmarkt politischer Gestaltung scheint sie alles zu tun, um die Möglichkeiten der Politik auf jene Spitze zu treiben, wo sie als Unmöglichkeiten unbezweifelbar vor aller Augen stehen. Der Streit innerhalb der Sozialdemokratie und innerhalb der Grün-Alternativen und zwischen diesen beiden Parteien scheint die Last auf sich genommen zu haben, stellvertretend für alle anderen Akteure des „Modells Deutschland“ auszutesten, welche Ideen des 20. Jahrhunderts es wert sind, in das nächste Jahrhundert mitgenommen zu werden.

Die sozialdemokratische Idee des Wohlfahrtsstaates steht ebenso auf dem Spiel wie die grün-alternative Idee des Ausstiegs aus dem energie-industriellen Komplex. Die neoliberale „Modernisierung“ der Gesellschaft gilt als ebenso verlockend wie die kulturelle Bewahrung des „rheinischen“ Kapitalismus. Man verabschiedet sich von den Verkrustungen des Korporatismus der Vereine und Verbände und wählt für diesen Abschied die Form eines korporativen Bündnisses, das mit unfehlbarer Sicherheit die traditionellsten Akteure versammelt. Man ist ein überzeugter Mitspieler der Internationalisierung und verzichtet dennoch keineswegs auf die Stärkung noch der eigentümlichsten Regionalismen. Man spielt alles zugleich und stützt sich dabei auf die Massenmedien, solange sie mitspielen, und verprellt sie, sobald sie es nicht tun, wohl wissend, dass Zeitung, Rundfunk und Fernsehen verlässliche Verbündete ebenso wie zuverlässige Gegner jeden gesellschaftlichen Wandels sind. Hätte Charles Handy nicht schon 1994 das „Age of Paradox“ ausgerufen, man müsste es spätestens jetzt tun.

In diesem Zeitalter wäre es der Gipfel der Hilflosigkeit, sich politisch ganz und gar auf jeweils eine der Optionen der aktuellen Widersprüche zu stützen. Man muss beide Seiten der Widersprüche bedienen und man kann dies auch, da es dank der Massenmedien eine so hochgradige Temporalisierung der Politik gibt, dass man nahezu problemlos am einen Tag dies und am nächsten Tag das Gegenteil tun kann. Und dazu muss man sich noch nicht einmal darauf verlassen, dass Medien und Wähler rechtzeitig vergessen haben, was noch gestern als Maxime des Handelns galt. Man kann sich ganz im Gegenteil darauf stützen, dass die Erinnerungen so weit reichen, dass die Bewunderung für ein politisches Kalkül, das klug genug ist, das Widersprüchliche zu tun, sichergestellt werden kann.

Beobachter einschließlich der Politiker selber, die sich von diesem Stand der Politik verwirren lassen, sind selber schuld. An Widersprüchen stört sich nur, wer Konsistenzerwartungen hat. Und Konsistenzerwartungen hat nur, wer die Welt für einfach hält. Aber sie ist nicht einfach. Und sie war es selten weniger als gerade jetzt. Wenn man sich das Engagement des Kanzlers für Mannesmann und Holzmann anschaut, weiß man nicht, was mehr überrascht: die Bereitschaft des Kanzlers, der ökonomischen Rationalität der Modernisierung, für die er einsteht, zuwiderzuhandeln, oder die jenseits der unmittelbar Betroffenen geradezu empörte Ablehnung dieses Engagements. Selten war eine Öffentlichkeit so schnell bereit, die einstweilige Rettung Holzmanns nicht nur als unangemessene Ermutigung eines schlechten Managements, sondern als gefährlichen Präzedenzfall für die Behandlung zukünftiger Insolvenzen zu kommentieren. Schaut man sich überdies an, wie gerade jene sozialdemokratische Klientel dem Kanzler zujubelt, die bisher allen Grund hatte, mit ihrem Vertrauen in seine Politik eher zurückhaltend zu sein, so kann man sich vorstellen, wie zerbrechlich die Koalition der Modernisierer und Traditionalisten ist, die sich für einen Moment hier andeutet.

Worauf also kommt es politisch bei der Rettung Holzmanns und bei der Verteidigung Mannesmanns an? Bezeichnend ist ja, dass dem Kanzler kein anderes Argument für die Erhaltung der Selbstständigkeit Mannesmanns einfiel als die Befürchtung, dass eine feindliche Übernahme die „Unternehmenskultur“ des übernommenen Betriebs gefährde. Das Argument zieht auch im Fall Holzmann. Auch hier geht es um eine bestimmte Unternehmenskultur. Wenn der Kanzler für eine Unternehmenskultur in die Bresche springt, dann kann es sich dabei demnach ebenso um die Kultur der politischen Mauscheleien in einem Baugewerbe handeln, das auf ein rationales betriebswirtschaftliches Kalkül verzichten kann, weil die Aufträge anders akquiriert werden, wie um eine Unternehmenskultur, die wie im Fall Mannesmann den Wechsel schaffen will von der Stahlindustrie in die Telekommunikation und damit vom bürokratischen Konzern zur flexiblen Holding.

Sinn kann man der aktuellen Politik in den genannten Fällen nur abgewinnen, wenn man vermutet, dass die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen und unübersichtlichen Lage die Politik vorschickt, um die Felder zu markieren, in denen es so nicht mehr weitergehen kann. Der Trick besteht darin, eine Wirtschaftspolitik, eine Politik der sozialen Sicherung, eine Bildungspolitik und wahrscheinlich auch eine Außenpolitik und Verteidigungspolitik zu entwerfen, die erkennbar überfordert sind und daher kaum etwas anderes tun können, als die Muster zu bestätigen, die die Probleme produzieren, auf die die Politik andernfalls eine Antwort haben müsste. Die Hilflosigkeit der Politik markiert die anders für die Öffentlichkeit der Gesellschaft nicht sichtbaren Felder des Umbruchs. Wenn die Gesellschaft der Politik ihr Vertrauen entzieht, dann heißt das nichts anderes, als dass sie sich selbst das Vertrauen entzieht. Das kann sie aber nur, wenn die Politik sich nicht nur als Sündenbock zur Verfügung stellt, sondern zugleich auch jene Reste an Handlungsfähigkeit bewahrt, aus denen ein neues Vertrauen sich entwickeln kann.

Der Fall Holzmann markiert die strukturelle Kopplung zwischen einer Politik und einer Wirtschaft, die immer schon auf Marktbegrenzung zur Gewinnsicherung abgestellt haben und dies immer schon für einen Beitrag zum Gemeinwohl gehalten haben. Das Problem besteht nicht darin, dass dies falsch ist, sondern darin, dass dies falsch geworden ist. Die Marktbegrenzung kann heute weder die Gewinne noch das Gemeinwohl sicherstellen. Im Gegenteil, sie gefährdet beides so sicher, wie die Mauer als Sicherungsmaßnahme der DDR die DDR gefährdete.

Die Wirtschaft ist gegenwärtig von einem Strukturumbruch gekennzeichnet, in dem das Kapital nicht mehr durch die Erfindung von Technologien und die politische Absicherung von Territorien generiert wird, sondern durch das alte und in der Tat liberale Prinzip der Deckungsgleichheit von Eigentumsrechten und Gewinnzielen. Schaut man sich an, was große Unternehmensberatungsfirmen landauf, landab ihren Kunden predigen, so handelt es sich um nichts anderes als den radikalen Abbau jeder Querfinanzierung, die jemals unrentable Unternehmensbereiche neben rentablen Bereichen hat überwintern lassen. Die Wirtschaft, die aus diesem Strukturumbruch entstehen wird, wird nicht mehr bereit und auch nicht mehr fähig sein, irgendetwas anderes zu finanzieren als ihren eigenen Unternehmenserfolg. So Gewinne erzielt werden, und sie werden zum Teil immens sein, dürfen sie nur und ausschließlich jenseits der Eigentumsgrenzen des eigenen Betriebs ausgeschüttet werden. Die Investoren drängen darauf, der Fiskus wird Mittel und Wege finden müssen, daran zu partizipieren, und wohltätige Organisationen aller Art hoffen öffentlichkeitswirksam darauf.

Der Preis, der für diesen Strukturumbruch gezahlt werden muss, ist hoch. Die Kapitalmärkte sind zunehmend nur noch bereit, jene Unternehmen zu finanzieren, die die Gewinnerwartungen des Kapitalmarkts immer wieder übertreffen. Wie aber kann man Erwartungen übertreffen, wenn diese Erwartungen erwarten, übertroffen zu werden? Diese Logik kann man nur bedienen, wenn die Durchkreuzung der Erwartung, das Scheitern der Investitionsprogramme, die Entwertung der Eigentumsrechte ebenso wahrscheinlich sind wie die Erfüllung der Gewinnerwartungen. Der Logik des Kapitalmarkts genügt nur eine Wirtschaft, die den Gesetzen der Spekulation gehorcht. Darum hat der Neoliberalismus ebenso wie bereits der Liberalismus die Struktur der Wette. Anders als dieser aber auf einem technologischen und finanziellen Niveau, das die alte Erwartung des Liberalismus, ein System zu sein, das die Fehler jedes Einzelnen durch den Entzug von Kapital unschädlich machen kann, zum Problem werden lässt, weil nicht mehr sichergestellt werden kann, dass die Fehler der heutigen Konzerne noch auf einer Ebene liegen, auf der sie korrigiert werden können.

Unsere Politik ist verwirrt, weil sie nicht weiß, ob sie die Wette halten oder lieber gegen sie wetten soll

Wie also kann die Politik sich hier verhalten? Muss sie nicht in der Tat alles tun, um herauszuarbeiten, worauf es in diesem Strukturumbruch ankommt? Und gibt es dazu ein besseres Mittel als den Versuch des Widerstandes? Was überrascht mehr am Widerstand der Demonstranten bei der Tagung der World Trade Organization in Seattle: die Zahl und Heftigkeit der Demonstranten oder die rasche Bereitschaft der Politiker, ihr Verständnis für sie zu äußern?

Auch im Fall Mannesmann gegen Vodafone geht es nur oberflächlich um die Bedeutung des „Standorts“ Deutschland. Das „Prinzip Heimat“ ist längst irrelevant geworden in einer Wirtschaft, in der nicht nur der Kapitalbesitz, sondern auch die Produktion grenzüberschreitend organisiert ist. Zur Entscheidung stehen die beiden Fragen, welche Politik dem Experiment einer um Eigentumsrechte neu strukturierten Wirtschaft angemessen sein wird und ob und wie der Übergang zu dieser neuen Politik in den Formen der alten Politik bewerkstelligt werden kann. Als Wohlfahrtsstaatspolitik war und ist die alte Politik die Prinzip gewordene Querfinanzierung oder Umverteilung. Das ist das Gesetz des Korporatismus, das die Unternehmen ebenso kennzeichnete wie die parteipolitischen Programmatiken. Wie aber kann eine Politik aussehen, die die Querfinanzierung entweder aufgibt oder sie offenlegt als die Wohltätigkeit, die sie ist? Und wie kann, wenn man so weit nicht gehen will, eine Politik aussehen, die in genau dem Moment einer neuen Form der Besinnung auf Eigentumsrechte zuarbeiten soll, in dem diese Eigentumsrechte nicht mehr nur materielle, sondern zunehmend immaterielle „Bestände“ betreffen?

Der eigentliche Konflikt betrifft die Frage, wie man sich eine stabile Gesellschaft vorstellen kann, deren Struktur in der Nutzung von Eigentumsrechten besteht, deren Wert nicht nur marktabhängig ist, sondern abhängig von Wetten auf eine unbekannte Zukunft. Die einzige Stabilität, die so eine Gesellschaft gewinnen kann, ist die der Wette selber. Unsere Politik ist so verwirrt und verwirrend, wie sie ist, weil sie nicht weiß und nicht wissen kann, ob sie die Wette halten kann oder nicht lieber gegen die Wette selber wetten soll. Und dies zeigt das zu Grunde liegende Dilemma: Wetten muss sie in jedem Fall! Da dies jedoch politisch unklug ist – schließlich könnte man die Wette und damit die Macht verlieren –, tut man alles zugleich und vertraut darauf, dass die Evolution der Gesellschaft selber im Laufe der Zeit die eine oder andere Option ausschalten wird. Politische Klugheit verkörpert sich in dieser Politik noch immer. Aber ihr Ort ist nicht die Partei und ihr Programm, sondern das Kanzleramt und sein Machtkalkül. Die Gesellschaft muss einsehen, dass sie dies Machtkalkül konzedieren muss, wenn sie auf die Pfadfinderleistungen der Politik in einer unübersichtlichen Gegenwart nicht verzichten will. Andernfalls müsste sie sich zur Eruierung der eigenen Zukunft auf die Massenmedien, die Wissenschaft oder gar die Wirtschaft verlassen.

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