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„Hier schlafen die Schlauen vom Bau“

Für 11 Mark pro Nacht können auswärtige Bauarbeiter in einem sanierten Plattenbau in Berlin-Lichtenberg zwischen Heizkraftwerk, Tankstelle und dem Massagestudio „Paradies“ übernachten: ein Leben besonderer Art zwischen Fernsehen und Schlafen ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Im Massagesalon „Paradies“ im Block nebenan kostet „gewöhnliche Entspannung“ 60 Mark, „mehr“ kostet 100

Der Abfalleimer vor der Haustür ist gut gefüllt. Zerdrückte Bierdosen liegen darin. Nicht eine einzige Dose ist auf dem Rasen gelandet. Auch das renovierte Treppenhaus macht einen aufgeräumten Eindruck. Auffällig sind nur die vielen getrockneten Schlammkrümel, die sich in dem braunen Teppichboden verfangen haben. Das Brummen eines Müllschluckers dröhnt über mehrere Etagen. Nach dem Klingeln an einer der drei Wohnungstüren in der dritten Etage, das wie ein Warnton in einer Fabrikhalle klingt, öffnet ein Mann im T-Shirt, Jogginghose und Badelatschen: Siegfried Penski.

Vor dem Fernseher haben es sich zwei Männer bequem gemacht. Auf der Couch hockt Jens Friedrich (29), die Beine weit von sich gestreckt. Auch er trägt eine Jogginghose und an den Füssen braune Schlappen. In einem Sessel neben ihm sitzt Riko Bertelmann (28). Ein Träger seiner blauen Latzhose ist offen und hängt lässig über dem breiten Brustkorb. Seine Füsse stecken in grauen Filzlatschen.

Auf dem Tisch liegen die Reste des Abendessens – eine „Amerikanische Westernpizza“ – Schokolade, Zigaretten, ein Kreuzworträtselheft und ein Feuerzeug mit der Aufschrift „Ein starkes Team“.

Das Team besteht aus zwei Maurern und einem Zimmermann. Penski könnte mit seinen 46 Jahren fast der Vater seiner beiden Kollegen sein. Zwischen Montag und Freitag teilen sich die drei eine Wohnung in einem sanierten Plattenbau im Ostberliner Bezirk Lichtenberg. „Gemeinschaftliches Wohnen von Firmenmitarbeitern“, nennt der Vermieter, die Apartment- und Wohnungsbaugesellschaft MBH Arwobau, die Unterkünfte. Die Firma, die früher Zuziehende mit Erstwohnungen in Berlin versorgte, bietet seit dem Fall der Mauer möbliertes Wohnen auf Zeit an. Während in Bezirken wie Mitte, Wilmersdorf, Steglitz oder Charlottenburg gehobenes Wohnen für Geschäftsleute und Politiker geboten wird, konzentrieren sich die Wohnungen für Baufirmen vorwiegend in Lichtenberg. Allein in der Rhinstraße, wo auch Penski, Friedrich und Bertelmann wohnen, vermietet die Arwobau fast 1.000 Apartments. Dass die Auslastung der Wohnungen etwa 90 Prozent beträgt, liegt an den günstigen Preisen. So sind möblierte Zweizimmerapartments ab 1.200 Mark im Monat zu haben. In einer Anzeige für das günstigste Angebot heißt es: „Hier schlafen die Schlauen vom Bau: 11 Mark pro Nacht.“

Der Bezirksverband der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar und Umwelt schätzt, dass es in Berlin etwa 15.400 Bauarbeiter gibt, die von auswärts angereist kommen. Diese Zahl, die sowohl deutsche als auch ausländische Kollegen beinhaltet, entspricht in etwa der Zahl der arbeitslosen Berliner Bauarbeiter.

Nur drei Nächte in der Woche – Freitag, Samstag und Sonntag – schlafen Penski, Friedrich und Bertelmann in ihren eigenen Betten. Die stehen in drei kleinen Ortschaften im Landkreis Elbe-Elster im Süden Brandenburgs, etwa 120 Kilometer von Berlin entfernt. Weil die Auftragslage in Herzfeld, dem Sitz der Firma Hoch- und Tiefbau, für die sie seit drei Jahren jobben, nicht für die 300 Mitarbeitern reicht, reisen sie der Arbeit hinterher.

Seit Mai dieses Jahres mauern, betonieren und schalen sie auf der Baustelle eines Wohn- und Geschäftshauses in Pankow, eine Dreiviertelstunde von ihrem Quartier entfernt.

Das liegt in einer Gegend der Stadt, wo nicht gerade das Leben tobt. Nur das tägliche Verkehrsaufkommen von 50.000 Autos auf der Straße vor ihrem Wohnblock, eine Tankstelle um die Ecke und das Heizkraftwerk Lichtenberg mit zwei 160 Meter hohen Schornsteinen auf der anderen Straßenseite lassen die Großstadt allenfalls ahnen. „Die Straße runter ist alles gleich“, sagt Bertelmann. „Es ist schon etwas trostlos“, meint auch Friedrich.

Nur Penski, der schon zu DDR-Zeiten auf Montage in Berlin war, nimmt es gelassener: „Man hat hier seine Ruhe.“ Er ist schon glücklich, dass niemand am Wochenende den Stecker aus dem Kühlschrank zieht, wie es ihm bei seiner letzten Unterkunft, einem Privatquartier, passiert ist. „Da mussten wir die Essensreste mit nach Hause nehmen“, schimpft er. Froh ist Penski auch darüber, dass er im Treppenhaus und im Fahrstuhl seine schmutzigen Arbeitsschuhe anbehalten darf. In einem Berliner Sporthotel, wo er vor einigen Jahren untergebracht war, durfte der Frühstücksraum nicht mit Arbeitsklamotten betreten werden. „Da mussten wir nach dem Frühstück noch mal aufs Zimmer, um uns umzuziehen“, erzählt er mit Kopfschütteln. Außerdem ist er angenehm überrascht, dass ihm die Isolierung der Fenster den Verkehrslärm halbwegs vom Leibe hält. Nur eine Sache stinkt ihm gewaltig: Dass er morgens seine „Bemmen“ selber schmieren muss. „Das mache ich nur mit Widerwillen“, sagt er. Er könnte zwar an einer Imbissbude an der Baustelle eine Knacker essen, aber das ist ihm auf Dauer zu teuer.

Wegen dem lieben Geld begrenzen sich auch Telefonate mit den Lieben daheim auf das Nötigste. Penski ist seit 17 Jahren verheiratet und hat Respekt vor seiner Frau, die unter die Woche mit den beiden Söhnen, dem Hund und den Goldfischen die Stellung hält. „Wenn meine Frau abends in die Kiste steigt, weiß sie, was sie gemacht hat“, sagt er. Jens Friedrich hat seit vier Jahren eine Freundin und vermisst besonders deren Kochkünste. Nur Bertelmann, der Jüngste im Bunde, hat keinerlei familiäre Verpflichtungen.

Bis der Rohbau in Pankow fertig ist, teilen sich die drei eine Zweizimmerwohnung mit Wohnzimmer samt Couchgarnitur, Schrankwand und Kochzeile, ein Schlafzimmer und ein Bad. Den Fernseher haben sie selbst mitgebracht, der Chef wollte solche Extras nicht zahlen. Bertelmann, der nach Angaben seiner Mitbewohner „brutal schnarcht“, wurde mit seinem Bett ins Wohnzimmer verbannt. Weil sein Schnarchen selbst das Weckerklingeln übertönt, reißt ihn Penski morgens aus dem Schlaf.

„Ob Streit mit der Frau zu Hause oder hier, das ist doch egal. Aber wir streiten kaum, weil wir nicht trinken.“

Konflikte untereinander gibt es kaum. Die Erklärung dafür liefert Penski: „Wir streiten kaum, weil wir nicht trinken.“ Er selbst hat dem Alkohol ganz abgeschworen, seit er unter Herz-Rhythmus-Störungen leidet. Der 29-jährige Friedrich erzählt, dass er gerne Bier getrunken habe, als er „jünger war“. Bertelmann hält es mit der Devise „entweder richtig oder gar nicht“. Wenn es doch zu Meinungsverschiedenheiten kommt, wird diskutiert. „Ob Streit mit der Frau zu Hause oder hier“, sagt Penski mit einem Lachen, „das ist doch egal.“

Den Verlockungen der Großstadt erliegen sie kaum. Zumindest die beiden Jüngeren würden gerne öfter ins Fußballstadion, in die Kneipe oder zu einem Konzert gehen. Doch weil erst die Arbeit und dann das Vergnügen kommt und sie um 6 Uhr aufstehen und bis 18 Uhr arbeiten, reicht der Elan meistens nur noch für die Fahrt mit dem VW-Bus in den Supermarkt und ein, zwei Stunden vor der Glotze. Manchmal unterhalten sie sich über Autos, Filme oder „über Weiber im Fernsehen“; wie Penski lachend sagt.

Über die Arbeit reden sie fast nie. Spätestens um 22 Uhr fallen sie in die Betten. „Es ist irgendwie beschissen“, sagt der Maurer. Junggeselle Bertelmann klagt, dass er „wenig Möglichkeiten hat, eine Frau kennenzulernen“. Friedrich würde „gerne was erleben“. Doch auch er ist nach der Arbeit so geschafft, dass er „nicht mehr viel mitkriegt“.

Zumindest einen Abstecher ins „verruchte Großstadtleben“ hat Friedrich gemacht. Er erzählt, dass er dem Massagesalon „Paradies“ im Erdgeschoss des Elfgeschossers nebenan mal einen Besuch abgestattet hat. Ein großes, in feurigem Rot blinkendes Herz im Fenster lässt unschwer erkennen, dass es sich keineswegs um physiotherapeutische Massagen handelt. In der in schummeriges Rotlicht getauchten Vierzimmerwohnung mit Bar gibt es „gewöhnliche Entspannung mit der Hand“ für 60 Mark, und „mehr“ kostet 100 Mark. Doch Friedrich betont, dass er nur im Solarium gewesen sei.

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