„Der Bericht ignoriert die Rolle der USA“

Nach dem UN-Bericht über ihr Versagen beim Völkermord in Ruanda und Untersuchungen in Belgien und Frankreich fehlt die Klärung der US-Haltung, meint der belgische Senator Alain Destexhe

Alain Destexhe ist Senator in Belgien und Mitglied der „Liberalen Reformpartei“, die an der regierenden Linkskoalition beteiligt ist. Er erlebte den Völkermord in Ruanda 1994 vor Ort als Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ und setzt sich seitdem für die Klärung der internationalen Verantwortung für den Genozid ein.

taz: Sie initiierten 1997 in Belgien die erste offizielle Untersuchung über den Völkermord in Ruanda. Jetzt hat auch die UNO ihre Rolle untersucht. Wie reagieren Sie auf den UN-Bericht zu ihrem Versagen in Ruanda?

Destexhe: Zum ersten Mal wird die Verantwortung der UNO für die Tragödie offiziell anerkannt. Der Bericht versteckt sich nicht hinter der Kollektivverantwortung der internationalen Gemeinschaft, sondern sagt, dass all ihre Bestandteile Fehler gemacht haben – Mitgliedstaaten, Sicherheitsrat, UN-Sekretariat, Generalsekretär.

Ist auch Kofi Annan persönlich verantwortlich?

Der Bericht erwähnt nicht die Verantwortung Kofi Annans. Aber er erwähnt, dass Annan ein Telex der UN-Mission in Ruanda vom 11. Januar 1994, das die Vorbereitung von Massakern enthüllte, nicht weiterleitete. Kofi Annan war Mitglied des UN-Sekretariats und leitete die Abteilung für Friedensmissionen. Also kann er sich einer persönlichen Verantwortung nicht entziehen.

Gibt es Dinge, die der Bericht unterschlägt?

Der Bericht ignoriert die spezifische Rolle der USA. Wir wissen jetzt mehr darüber, was in Belgien, Frankreich und der UNO geschah. Man weiß immer noch nichts darüber, wie die USA die Informationen über die Möglichkeit eines Völkermords behandelten. Man weiß auch nicht, warum sie sich mit aller Kraft gegen die Verwendung des Wortes „Völkermord“ sträubten, während er stattfand.

Inwieweit half die späte Anerkennung eines Völkermordes in Ruanda durch die USA seiner Vollstreckung?

Die internationale Gemeinschaft schloss die Augen. Damit konnte es keine Intervention geben, um den Völkermord zu beenden. Die USA tragen eine besondere Verantwortung, denn als größte Macht der Welt hatten sie die Möglichkeit, die internationale Gemeinschaft zur Beendigung des Völkermordes zu mobilisieren. Dabei hatten die USA die internationale Völkermordkonvention unterzeichnet, die nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Pflicht zum Eingreifen festlegt. Von Völkermord zu sprechen, heißt, zum Eingreifen verpflichtet zu sein. Aber das wollten die USA und andere Länder zu keinem Preis. Die Frage ist auch: Wer hat das angeordnet? Madelein Albright, damals US-Botschafterin bei der UNO? Außenminister Warren Christopher? Oder Präsident Clinton? Keiner weiß es.

Glauben Sie, dass eine Chance für eine Untersuchungskommission in den USA besteht?

Es wird zweifellos schwieriger sein als bei den anderen Untersuchungen, da in den USA an dieser Sache praktisch kein Interesse besteht. Die UNO fürchtet, dass die UN-feindlichen Republikaner der USA die Geschichte benutzen könnten, um die Beziehungen zwischen den USA und der Weltorganisation zu belasten. Interview:

François Misser