„Kreativität verschwindet“

■ Durch Vermarktung und Regulierung gehen die Stärken des Internet verloren, prophezeit Rechtsprofesser Lawrence Lessig aus Harvard

taz: Ihr jüngstes Buch heißt „The Code is the Law“. Es endet mit einem sehr pessimistischen Ausblick in die Zukunft des Internet. Warum?

Lawrence Lessig: Ja, meine größte Sorge ist, dass die Freiheit im Cyberspace verloren geht. Der Cyberspace ist großartig, seine Architektur war immer offen – jeder kann in ihm kreativ werden, weil die Beschränkungen der realen Welt aufgehoben sind. Aber die Laissez-faire-Philosophie der Cyberlibertarier, die die Politik im Cyberspace bestimmt, wird dazu führen, dass die unsichtbare Hand des Marktes die ursprünglichen Werte des Netzes, seine Offenheit, vernichtet. Ich habe das Gefühl, dass wir in dunkle Zeiten zurückfallen werden und die Kreativität verschwindet.

Eigentlich sind Sie aber Verfassungsrechtler...

Ich verstehe den Cyberspace tatsächlich als eine Art Verfassung. Er hat eine Verfassung, zwar nicht wie die amerikanische Verfassung, die aus Gesetzestexten besteht, wohl aber eine Architektur, die bestimme Werte und Normen enthält. Die ursprüngliche Architektur des Internet hat es zum Beispiel fast unmöglich gemacht, geistiges Eigentum zu schützen. Denken Sie an MP3 – Sie können eine MP3-Datei nehmen, diese kopieren und kostenlos verteilen. Warum können Sie dies tun? Weil es ein Funktion seines Codes ist. Dieser Code könnte auch ganz anders sein. Der Inhalt – ein Musikstück – könnte in Container verpackt sein, die es unmöglich machen, mehr als eine Kopie herzustellen. Diese Container gibt es schon, man nennt sie digital rights management schemes. Sie können sicher sein, dass solche Codes sehr effizient weiter entwickelt werden – und zwar ohne das Mitwirken von Regierungen. Softwareentwickler werden das besser tun, als es jemals mit Gesetzen möglich wäre.

Ist das nicht ihr gutes Recht?

Von einem rechtlichen Standpunkt aus gesehen ist das sehr Besorgnis erregend. Zu viel Schutz war noch nie gut, deshalb sollten wir die Macht des Codes limitieren. Der US-Kongress und Industrielobbyisten wollen aber den Schutz von geistigem Eigentum noch ausweiten. Mit dem Copyright Extension Act etwa soll geistiges Eigentum auch rückwirkend beschützt werden.

Was stört Sie an rückwirkendem Eigentumsschutz?

Regelungen zum Schutz von geistigem Eigentum müssen einen Anreiz zur Kreativität geben. Die Ausweitung der heutigen Gesetze bringt das genaue Gegenteil. Man kann Dickens oder Disney nicht mehr dazu bringen, etwas Neues zu produzieren. Sie sind tot. Rückwirkende Gesetzesausweitungen bringen niemanden dazu, etwas Neues zu produzieren. Sie sorgen lediglich dafür, dass einige wenige Leute mehr Geld machen.

Wer sollte denn das Internet regulieren? Die Nutzer, die Unternehmen, der Staat?

Ich versuche, über Regulation anders nachzudenken. Nicht jede Art von Regulation muss von der Regierung ausgehen. Regulationstheorien sagen: Gesetze regulieren dich ein wenig, der Markt reguliert dich ziemlich effizient – und soziale Normen regulieren dich natürlich auch. Mein These besagt, dass das Internet einen vierten, sehr effizienten Regulator hervorbringt: die Architektur des Cyberspace. Sie ermöglicht ein bestimmtes Verhalten oder schränkt bestimmte Arten von Interaktionen ein.

Es gibt also schon viele funktionierende Regeln im Internet?

Es gibt schon jetzt jede Menge Regeln im Cyberspace, die allein durch das Zusammenspiel von Nutzern und Kommerz entstanden sind. Der Staat sollte nicht den Code neu schreiben, sondern zwischen den Regulatoren wählen, die schon existieren. Etwa indem er Bedingungen für den Markt setzt, geistiges Eigentum, aber auch unsere kulturellen Werte beschützt. Gesetze kann man nicht unabhängig von der Architektur sehen, sondern es ist wichtig, die Verbindung zu verstehen.

Wie soll der Staat die kulturellen Werte und geistiges Eigentum im Internet schützen?

Es ist sicherlich wahr, dass keine Regierung den Cyberspace im strikten Sinne beherrschen kann. Einige Regierungen üben dennoch starken Einfluss aus. Zum Beispiel wollte die US-Regierung ihre Jugendlichen vor Pornographie beschützen und hat dafür ein Filtersystem propagiert. Wenn es sich durchsetzt, wird es auch der chinesischen Regierung zur Verfügung stehen und ihr helfen, Informationen zu filtern, die ihr gefährlich erscheinen. Rein technische Lösungen haben immer auch nicht intendierte Effekte. Heute hat die US-Regierung eine herausragende Position im Internet. Ihr Urheberrecht beeinflusst die ganze Welt. Wir haben eine sehr extensive Rechtsprechung. Ich glaube, dass wir mit unserer Macht nicht sehr sensibel umgehen.

ICANN, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, nimmt für sich in Anspruch, an Stelle des Staates den Code des Internet zu kontrollieren. Wäre sie damit nicht die Organisation, die Rechtsstandards am besten durchsetzen kann?

Das kann man jetzt noch nicht sagen. Wenn ICANN ihre Macht über das Internet maximieren will, wird sie erst einmal rein technische, unspektakuläre Entscheidungen fällen, die keine Kontroversen hervorrufen. Aber dann wird sie der offensichtliche Ort für alle, die das Internet kontrollieren wollen. Da es bis jetzt keine wirksame demokratische Kontrolle von ICANN gibt, ist das natürlich Anlass zur Sorge. ICANN hat sicherlich das Potenzial, zu einem unabhängigen Regulator für den Cyberspace zu werden. Das ist gefährlich. Besonders gefährlich, da sie unter kalifornischem Recht gegründet wurde, das so gut wie keine Möglichkeit zulässt, ICANN zu verklagen und zu disziplinieren, wenn sie ihre Kompetenzen ausweiten will. Die schwierigste Frage ist heute: Wie kann für ICANN eine Mitgliedsstruktur geschaffen werden, die eine demokratische Kontrolle ermöglicht?

Deshalb will ICANN eine At-Large-Membership einführen, eine Art globale Internetbürgerschaft, die in einer Online-Wahl die Direktoren bestimmen soll. Wie soll das möglich sein?

Eine Organisation wie ICANN kann ohne demokratische Kontrollinstanz gar nicht arbeiten. Ich glaube, dass die Internetnutzer sehr wohl an ICANN interessiert sind, wenn man ihnen erklärt, dass dieses Gremium die freie Meinungsäußerung und Datenschutzregeln im Netz beeinflussen wird. Aber es gibt in diesem Zusammenhang unvermeidbare politische Fragen, die wir beantworten müssen. In einem Projekt am Berkman Center arbeiten wir am Konzept „Deliberative Polling“. Es beschreibt eine Kommunikationsstruktur, die den Dialog zwischen kleinen Gruppen fördert. Tausende von einzelnen Kontakten sollen Wissen und Entscheidungen verbessern. Statistische Auswertungen haben gezeigt, dass diese Methode stabilere und besser reflektierte Meinungen produziert. Wir wollen dieses Modell für das Internet benutzen. Damit kann man sich eine sinnvolle Mitgliedsstruktur vorstellen, die aus der Gesamtheit der Internetnutzer besteht.

Und ICANN kontrollieren...

So könnte es eine gut informierte Einflussnahme auf die Direktoren der ICANN geben, und man könnte diese Struktur als eine Vollmacht für Mitgliederentscheidungen benutzen. Das Ganze ist ein Experiment. Wir haben noch viel Arbeit vor uns. Es ist aber ein erster Lösungsweg für ein Problem, das zuerst unlösbar erscheint: Wie kann man das ganze Internet repräsentieren? Wer ist das Internet? Wer ist ein Internetbürger?

Es sind noch acht Tage bis Silvester. Sie nennen den Millennium Bug eine „Krise im Code“.

Er ist ein Beispiel dafür, wie der Code unser Leben reguliert. Niemand weiß, in welchem Umfang die Computer versagen werden. Der Staat ist zu großen Teilen dafür verantwortlich, weil die Softwarefirmen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist unvermeidbar für den Staat, in solchen Fällen seiner Verpflichtung nachzukommen. Es ist wie beim Umweltrecht: Wenn eine Firma die Umwelt verschmutzt, wird sie zur Rechenschaft gezogen.

Interview: Christian Ahlert

christian_ahlert@harvard.edu