: Neun Stunden Kyrieeleison
Vor zweitausend Jahren wurde nach Auskunft der Bibel Jesus Christus geboren. Für jeden Menschen wäre dieser runde Geburtstag ein guter Grund, mal ordentlich zu feiern. Mit Lichtern und Kerzen, Feuerwerk und Meditation, mit großem Jubel und verhaltenem Leuchten. Aber die Kirchen, die katholische, die evangelische und all die anderen? Haben sich kaum etwas einfallen lassen. Selbst zum Millennium wissen die Christen kaum mal aus der Haut zu fahren. Bis auf eine Ausnahme. Die findet statt an einem Ort mitten in Berlin, wuchtig, schön, prunkvoll und einladend. Eine Recherche in der Hauptstadt auf der Suche nach der Nervosität der Festtagsvorbereitungen von Jenni Zylka
Schaut hin, dort liegt im finstern Stall, des Herrschaft gehet überall / Da Speise vormals sucht ein Rind, da ruhet jetzt der Jungfrau Kind.“ So singt es der Chor in Johann Sebastian Bachs zweiter Kantate seines Weihnachtsoratoriums. Der Text erinnert immer wieder daran, dass das Kind nach Auskunft der Bibel vor zweitausend Jahren in eine Krippe gelegt wurde, in der „vormals ein Rind Speise“ gesucht hat.
Ganz genau stimmt der Termin bekanntlich nicht, manche HistorikerInnen datieren das Geburtsjahr Jesu auf zirka 4 vor Christus, manche behaupten, Maria habe geschätzte fünf Jahre nach der so genannten Geburt Jesu Christi (n. Chr.) die Futterkrippe zweckentfremdet, und sämtliche buddhistischen, muslimischen und jüdischen Gläubigen lächeln angesichts des abendländischen Trubels um die Zweitausendjahrfeier nur müde.
Trotzdem – die rosaroten Zweitausendbrillen sind fabriziert, der Millenniums-Computervirus wird (vermutlich mit Bonduelledosen bewaffnet) empfangen, und die christlichen Kirchen haben dieses Jahr ein besonderes Weihnachtsfest und ein paar Tage später den letzten Gottesdienst des Jahrtausends zu feiern. Was bieten also die Horte der Stille, der Meditation und der Andacht am ultimativ letzten Weihnachtsfest vor dem Jahrtausendwechsel?
Bombastische Predigten, messweingeschwängerte Kirchenpartys, Beichten ohne Buße, De pacem domine über elektrische Verstärker? Die Programme der Berliner und umländischen Gotteshäuser sehen eher nach business as usual aus. An den vergangenen Adventssonntagen lockte schon mal das eine oder andere Weihnachtskonzert, es wird gesungen und aufgeführt, was die christliche Kirchenmusiktradition hergibt, und wie jedes Jahr ist der Dezember der bestbesuchte Monat für die Kirchen. Aber so richtig krachen lassen will es kaum einer.
Die kleine katholische Sankt-Josef-Kirche in Köpenick hat selbst ein – gegenüber den drei Nullen – eher bescheidenes Jubiläum zu feiern: Sie steht seit 1899 an der dunklen Köpenicker Lindenstraße, von der Spree nur durch sechs schnelle Autospuren und Tram getrennt. Und Pfarrer Franz Scholz, seit fünfzehn Jahren bei der Gemeinde, hat sogar eine echte 2000-Jahre-Aktion in petto. Sie heißt „Friedenslicht aus Bethlehem“.
Dabei wird ein Licht, das am 20. November in der Geburtsgrotte Jesu in Bethlehem entzündet wurde, laut Aktionsbeschreibung „mit dem frühesten Linienflug von zwei Pfadfinderkindern“ nach Frankfurt am Main gebracht. Von dort macht es sich „in einem sicheren Behälter“ (Bundeslade?) auf einen Zug durch die Gemeinden. Die „zentrale Planungskommission“ hat sich gedacht, dass das Friedenslicht in die liturgische Gestaltung der Heiligabendgottesdienste mit einbezogen werden kann.
Der wahnwitzige Clou: Die Kirchenbesucher können sich das Licht aus der Kirche (in einem sicheren Behälter?) mit nach Hause nehmen und es „in der Gestaltung der häuslichen Weihnachtsfeier aufgreifen“. Wobei es sich vielleicht empfähle, damit eine Kerze anzuzünden, denn das ergibt erfahrungsgemäß immer eine sehr weihnachtsfestliche Stimmung.
Das ökumenische Angebot wurde zwar in Berlin bisher fast nur von Menschen katholischer Konfession wahrgenommen. Möglicherweise stehen Gläubige lutherischer oder sonstwie reformierter Tradition auf andere Inszenierungen. Die christliche olympische Fackel hat deshalb noch ein paar weitere spannende Termine zu bestreiten: Am allerletzten Tag des Jahres wird in Frankfurt am Main vor der Liebfrauenkirche ein „Feuer als Zeichen für Wärme, Hoffnung und Frieden für eine Welt auf dem Weg ins neue Jahrtausend“ entzündet – offenbar spielen Christen ausgesprochen gerne mit dem Feuer.
Die Köpenicker Kirche hat ihr Pulver aber auch Silvester noch lange nicht verschossen: Pfarrer Scholz, 55 Jahre alt, bietet einen Gottesdienst mit „meditativen Texten“ an (mit diesem asiatisch inspirierten Programm hat die evangelische Kirche während der vergangenen Jahre viel Anklang gefunden), und natürlich wird er den Jahrtausendwechsel beziehungsweise „die zweitausend Jahre mit Christus“ auch in seinen Predigten erwähnen. Aber „wissen Sie“, sagt der bodenständige Pastor, „es feiern ja sowieso nur die Abendländer“. Er selbst habe am 31. Dezember Besuch, und zumindest der soll auf jeden Fall mitfeiern.
Was genau er am Silvesterabend vor dem schlichten, massiven Holzaltar sagen wird, weiß er allerdings noch nicht, „ich schreibe keine Predigten auf Halde“. Noch weniger Aufhebens um das besondere Datum macht die evangelische Kirche in Mariendorf, das denkmalgeschützte älteste Bauwerk Berlins. Nur die normalen Weihnachts- und Silvestergottesdienste fänden statt, sagt die Küsterei, aber immerhin erfreue sich das alljährliche „Turmblasen“ immer regen Zulaufs.
Rein gar nichts Spezielles will und darf die so genannte „Katholische Laienvereinigung für den klassisch-römischen Ritus“, (genauer Titel: „Pro Missa Tridentina“) zu den Jahrtausendfeiertagen veranstalten.
Ist ja auch logisch, denn, so erklärt Ulrich Bork von dieser Vereinigung, die Traditionalisten feierten streng nach der vorkonziliaren Liturgie, das heißt erstens lateinisch und zweitens „wie früher“. Und früher gab es aus einleuchtenden Gründen – und vor tausend Jahren wussten die meisten Menschen noch nicht, dass sie etwas so Großes wie einen Jahrtausendwechsel erleben – halt noch kein Millenniumsbrimborium.
Aber nicht alle Kirchen oder christlichen Vereinigungen sagen bedingungslos Non est! zum Feierbedürfnis ihrer Schäfchen. In Berlin-Friedenau, dem dichtbesiedeltsten Bezirk im Westen der Stadt, steht mitten auf einer stark befahrenen Kreuzung die Kirche der Evangelischen Gemeinde „Zum Guten Hirten“. Pfarrer dort ist seit zehn Jahren Manfred Moll, und dessen Gemeinde hat sich zusammen mit „etwa tausend Kirchen im ganzen Bundesgebiet“ an der Aktion „Jesus 2000“ beteiligt.
Sie zeichnet sich vor allem durch ein an dem schlichten Kirchenbau befestigten Transparent aus, das ein bisschen aussieht wie ein hängen gebliebenes monströses Fax: Oben steht „2000“, die Ziffern verlaufen in langen Strichen bis zum unteren Ende, wo „Jesus“ steht. Ein Bibelzitat ist in drei Sprachen an den Rand gedruckt, und nach Auskunft der „Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste“ lautet die Botschaft des Plakats: „Hier, in dieser Gemeinde, wird das Jahr 2000 aus gutem Grund gefeiert.“
Aha. Die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste regt an, unter diesem Aufsehen erregenden Motto zu „unterschiedlichen Veranstaltungen in der Gemeinde einzuladen“, zum Beispiel zu Seminaren, Filmreihen, Talkshows. Bis jetzt bietet Pfarrer Moll aber erst einmal Heiligabend eine „Messias“-Aufführung (Eintritt zwanzig Mark, ermäßigt fünf Mark weniger) und Silvester die „Offene Kirche“ an.
Ganz genau steht das Programm zwar noch nicht fest, aber um viertel nach elf am Abend wird Moll aufschließen, fünfzehn Minuten vor Mitternacht werden religiöse Texte („auch für mich selbst“) gelesen, um kurz vor zwölf wird geschwiegen und („hoffentlich!“) dem computergesteuerten Glockengeläut gelauscht, und dann schmeißt der Pfarrer ’ne Runde Sekt. Prosecco, um genau zu sein, von seinem „Lieblingsitaliener“, lächelt der Bonvivant durch die viereckige Brille.
Den Vogel schießt jahrtausendmäßig in Berlin eigentlich nur eine Kirche ab. Nicht die wohl bekannteste, die Charlottenburger Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die am Heiligen Abend einen trauten, traurigen „Gottesdienst für Alleinstehende“ veranstaltet. Sondern der Dom zu Berlin, der riesige, vor sechs Jahren prunkvoll renovierte Kuppelbau am Lustgarten in Berlin-Mitte, in dessen Mittelschiff die ganze Köpenicker Sankt-Josef-Kirche lässig Platz hätte.
Heiligabend beschränkt man sich zwar noch etwas zögerlich auf eine normale Messe, aber schon am ersten Weihnachtstag schmettert ein Posaunenensemble Werke von, unter anderen, Bach und Praetorius. Am zweiten Weihnachtstag steigert sich die Stimmung mit Orgel und zwei Trompeten. Und dann, wie zu einem Finale, am Silvesterabend, trägt man richtig und millenniumsmäßig sehr dick, angemessen dick auf.
Bei der liturgischen Nacht „Unsere Zeit in Gottes Händen“ wird von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens durchgehend gebetet und gefürbittet, gesungen und gewünscht, neun Stunden lang Kyrieeleison, Glockengeläut, Choralschola, wuchtige Orgelmusik und Andacht. Das ist doch mal was.
Und das Zitat aus dem eingangs erwähnten Weihnachtsoratorium, Kantate 3, „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen, lass Dir die matten Gesänge gefallen, wenn Dich Dein Zion mit Psalmen erhöht!“ bekommt angesichts der zu erwartenden Party vielleicht auch eine ganz neue Bedeutung.
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