: Auf den Hund gekommen
Am Boxhagener Platz wurde der kleine Steven von einem Dobermann verfolgt. Das Kind lief vor einen Laster und starb, die Hundehalterin machte sich unerkannt davon. Der Kiez ist rechtsfreier Raum für Hunde. Eine Studie ■ Von Plutonia Plarre
Im Kiez ist längst wieder der Alltag eingekehrt. Die Autofahrer treten auf das Gaspedal, als gäbe es die Tempo-30-Zonen nicht. Auch die unzähligen Hunde genießen in jeder Hinsicht einen Freifahrtsschein. Nur die zerfetzten Fahndungsaufrufe der Polizei an den Straßenlaternen erinnern noch an den tragischen Vorfall, der sich am 19. Oktober 1999 in der Nähe des Boxhagener Platzes im Bezirk Friedrichshain ereignet hat.
Am jenem Nachmittag war ein 6-jähriger Junge von einem nicht angeleinten Dobermann verfolgt worden. Aus Angst vor dem Hund lief das Kind auf die Straße und wurde von einem Kleinlaster überrollt. Der kleine Steven starb am Unfallort, direkt vor der Haustür seiner Eltern.
Die Hundehalterin, eine 20- bis 25-jährige, etwa 1,65 Meter große Frau mit langen blonden Haaren, flüchtete unerkannt.
Zwei Monate hat die Polizei mit einem Phantombild nach der Hundehalterin gefahndet. Eine aus zwei Beamten bestehende Sonderkommission (SoKo) „Dobermann“ wurde eigens mit den Ermittlungen beauftragt sowie 2.000 Mark Belohnung ausgelobt. Eine sehr ungewöhnliche Maßnahme, wie Polizeihauptkommissar Detlef Schubert weiß. „Mir ist kein Fall bekannt, in dem bei einem Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang eine Belohnung ausgesetzt worden ist“, sagt der seit 15 Jahren beim Verkehrsunfalldienst tätige Beamte. Das immense Interesse an der Aufklärung des Falles – „fast jeden Morgen kam eine Nachfrage von oben, wie weit wir sind“ – erklärt sich Schubert mit dem Politikum „Hund“.
Es gibt in Berlin kaum ein Thema, bei dem die Emotionen so hochkochen wie bei den Vierbeinern. Die scharfen Proteste von Hundehaltern und deren Verbänden hatten im vergangenen Jahr verhindert, dass sich die CDU-SPD-Koalition auf eine Verschärfung der Hundeverordnung einigen konnte.
Geplant gewesen war ein genereller Leinenzwang für Hunde wie etwa in Dortmund und Bielefeld. In bayerischen Innenstädten müssen Hunde ab 50 Zentimeter Schulterhöhe angebunden werden.
Auch ein Verbot von bestimmten aggressiven Hunderassen, wie es in Bayern oder Brandenburg existiert, wurde vom Senat nicht auf den Weg gebracht. „Wenn der Dobermann angeleint gewesen wäre, wäre der 6-jährige Steven noch am Leben“, steht für die SPD-Abgeordnete Heidemarie Fischer fest.
Die hundenärrische Lobby tyrannisiert die ganze Stadt. In der 3,4 Millionen Einwohner zählenden Metropole sind 103.000 Hunde angemeldet. In Wirklichkeit sind es mindestens doppelt so viele. Eine vom Meinungsforschungsinstitut Info GmbH zum Thema „Heimtierhaltung in Berlin“ durchgeführte repräsentative Umfrage ergab unlängst, dass es in der Stadt rund 225.000 Hunde gibt. In der Oberfinanzdirektion, die die Erhebung der Hundesteuer kontrolliert, geht man davon aus, dass der Stadt jährlich 22,5 Millonen Mark Hundesteuer durch die Lappen gehen.
Auch für die Beseitung des Hundekots – wozu die Halter bei Androhung eines Bußgeldes verpflichtet sind – muss der Staat Unsummen berappen. Laut Berliner Stadtreinigung fallen in Berlin täglich 40 bis 60 Tonnen Hundekot an.
In Friedrichshain, wo der kleine Steven ums Leben kam, gibt es besonders viele Hunde. Der Bezirk gehört zu den ärmsten der Stadt. In den Mietskasernen rund um den Boxhagener Platz – im Volksmund „Hundeklo von Friedrichshain“ genannt – wohnen überdurchschnittliche viele junge und alte Menschen: Studenten und Rentner, Arbeiter und Arbeitslose, Yuppies und Punks. Der Hund ist Statussymbol der Armen. Je jünger der Halter, umso größer die „Töle“.
Die Gehwege im Kiez sind mit Scheiße gepflastert. Jegliche Begrünungsbemühungen des Gartenbauamts werden durch die Vierbeinerhorden zunichte gemacht. Die geltende Verordnung, wonach die Köter zumindest in Grünanlagen angeleint werden müssen, ist im Kiez außer Kraft gesetzt. Der Leiter des Friedrichshainer Grünflächenamtes, Adalbert Maria Klees, übertreibt nicht, wenn er das Gebiet rund um den Boxhagener Platz als einen „rechtsfreien Raum“ bezeichnet. Klees hat seinen Mitarbeitern strikt untersagt, gegen die Halter der wild herumtollenden Hunde in den Parks vorzugehen, nachdem er selbst von einem Kampfhund angefallen worden war. „Die Einzigen, die sich hier noch Respekt verschaffen können, sind Polizisten mit Hunden oder Pferden“, ist Klees überzeugt.
Wie roh die Sitten im Kiez sind, belegt ein Vorfall, der sich direkt am Boxhagener Platz ereignet hat. Ein Kampfhund biss einen Pinscher in der Mitte durch. Die Halterin, eine ältere Dame, lief weinend in den Gemüseladen und besorgte sich eine Plastiktüte. In dieser trug sie die beiden Körperhälften ihres toten Schoßhündchens nach Hause. Für den Chef des Grünflächenamtes steht fest: „Kampfhunde sind Zeitbomben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich so ein Köter in ein Kind verbeißt.“
Acht Wochen lang hat Polizeihauptkommissar Schubert von der SoKo „Dobermann“ im Kiez treppauf, treppab nach der blonden Hundehalterin gefahndet. Gesucht hat er einen schwarzen Dobermann mit einem kopierten Schwanz und kopierten Ohren, der auf einen Namen wie „Aska“ oder „Saskia“ hört. Nach dem Unfall hatte in den Zeitungen gestanden, der Dobermann habe den 6-jährigen Steven auf die Straße gehetzt. Nach Erkenntnissen von Schubert trifft das nicht zu. „Zwei Kinder haben übereinstimmend bekundet, dass der Dobermann keinen aggressiven Eindruck gemacht hat. Es scheint eher so gewesen zu sein, dass der Hund aus Spieltrieb zu dem Kind gelaufen ist.“
Schubert (56) hat selbst seit vielen Jahren einen Schäferhund. Er gehört zu der Gruppe von Hundehaltern, die brav ihre Steuern bezahlen und am Stadtrand wohnen, wo es genügend Auslaufflächen gibt. Wenn sein eigener Hund aus Spieltrieb zu einem Kind gelaufen wäre und dieses daraufhin in den fließenden Verkehr, „wäre das sehr tragisch, aber kein Grund für mich, das Tier abzuschaffen“. Dass die Frau nach dem Unfall abgehauen ist, findet er jedoch unentschuldbar. „Wenn sie geblieben wäre, hätte der Richter das Ganze möglicherweise als tragischen Unglücksfall eingestuft. Aber so handelt es sich eindeutig um Unfallflucht.“
Den Fahrer des Kleinlasters trifft nach dem Stand der Ermittlungen keine Schuld. Das Fahrzeug war kurz vorher in die Straße eingebogen und fuhr laut Schubert höchstens 25 Stundenkilometer. Aus meiner Sicht hatte der Fahrer keine Chance, den Unfall zu vermeiden, weil das Kind plötzlich zwischen den geparkten Autos auf die Straße geschossen kam“, sagt der Beamte.
Die Ermittlungen im Kiez waren nicht leicht. Rund 100 Dobermänner nebst deren Halterinnen und Haltern hat der Polizeihauptkommissar überprüft. Die meisten Namen und Anschriften besorgte er sich aus der Kartei von Tierärzten. 14.600 Karteikarten hat er auf diesem Wege durchkämmt. Über die Hundesteuerabteilung beim Finanzamt war kaum etwas zu holen. Von den 100 überprüften Dobermännern waren nur 10 angemeldet.
Die Hinweise aus der Bevölkerung tröpfelten dürftig. „An die Leute im Kiez ist schwer heranzukommen. Sie decken sich gegenseitig“, hat Schubert erfahren. Einmal konnte er sich nur nach der Androhung zu schießen Zutritt zu einem Etablissement im Rotlichtmilieu verschaffen. Der knurrende Dobermann hinter der Tür war drauf und dran, ihn anzufallen. Die gesuchte Frau fand Schubert nicht.
„Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich die Frau wäre“, entrüstet sich eine 30-jährige Mutter, die ihre kleine Tochter auf dem Fahrrad nach Hause schiebt. Von den Hunden im Kiez ist sie völlig entnervt. Begegnungen wie diese hat die Alleinerziehende schon unzählige Male erlebt: Ein Köter, fast so groß wie ein Kalb, rennt auf die 4-jährige Tochter zu. Die Schnauze berührt fast ihre Nase. Gemächlichen Schrittes kommt das Herrchen heran: „Keine Angst. Der beißt nicht. Der will nur spielen“, beruhigt er die panische Mutter. „Wenn man sich beschwert“, erzählt die Frau, „wird man noch als hysterische Ziege angemacht.“
Auf einer Brache neben dem Kindergarten balgen sich an die 15 große und kleine Hunde. Gekackt und gepinkelt wird an den Zaun der Tagesstätte. „Alle reden über den Dobermann, aber keiner über den Autofahrer“, ereifert sich eine 25-jährige berufslose Frau, die mit einem Schäferhundmischling unterwegs ist. Wenn ein Kind Angst vor Hunden habe, liege das meistens an den Eltern, die immer von „Scheißkötern“ reden würden. „Als Hundebesitzer wird man genauso diskrimimiert wie ein Raucher“, schaltet sich ein anderer Hundehalter in das Gespräch ein. Die Bedeutung der Vierbeiner in einer Großstadt wie Berlin werde absolut verkannt. „Es gab noch nie so viele Singles, die keine Arbeit haben“, sagt die 25-Jährige. „Wenn man nur mit sich selbst spricht, wird man doch schizophren.“ Dass die Hundehalterin nach dem Unfall nicht stehen geblieben ist, findet keiner im Kreis in Ordnung. Aber deshalb einen Leinenzwang für alle Köter zu verhängen sei keine Lösung, meint ein 72-jähriger Rentner, der von einem rotbraunen Labradormischling umschwänzelt wird. „Angeleinte Hunde werden aggressiv und neurotisch. Sie glauben ständig, dass sie Herrchen verteidigen müssen.“
Die Kneipen im Friedrichshainer Kiez sind auf Gäste mit Vierbeinern eingestellt. Eine Hundebar in Form eines Napfes vor der Tür gehört zum Service. Die große Zoohandlung in der Nähe des Boxhagener Platzes erzielt über 50 Prozent des Umsatzes nur durch die Hunde. Vom Knochen über Halsbänder und Beißringe bis zum Shampoo und Bürsten ist alles zu haben. Auf Schautafeln an der Wand kann der Kunde die beliebtesten Hunderassen der Welt studieren. In einem Extraraum stapeln sich 15-Kilo-Säcke mit Hundetrockenfutter. Die teuerste Sorte kostet 85 Mark.
„Am Hund wird nicht gespart, obwohl die meisten Leute wenig haben“, erzählt die Inhaberin. Von den Alten weiß sie, dass sie einen Seelentröster gegen das Alleinsein brauchen. Die Jungen benutzen den Hund bisweilen dazu, um sich hinter diesem zu verstecken. In so einem Fall ist das Tier einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt: Einmal wird es mit Liebe überhäuft, dann wiederum wird der ganze Frust an dem Geschöpf ausgelassen. Trotz ihrer Kritik an vielen Hundehaltern geht der Ladeninhaberin eines gegen den Strich: dass die Polizei nach dem Frauchen des Dobermanns „wie nach einer Mörderin gefahndet hat“.
Der tödliche Unfall hat sich 100 Meter von dem Zooladen entfernt ereignet. In den letzten Minuten seines Lebens haben sich die Ereignisse für Steven auf tragische Weise verkettet. Der gegen 15.30 Uhr vom Spielplatz heimkehrende Junge war angesichts des Dobermanns zuerst zu seinem Wohnhaus gerannt und hatte in panischer Angst auf den Klingelknopf seiner Eltern gedrückt. Als niemand öffnete, drehte er sich um und rannte auf die Straße. Die Eltern, die beide zu Hause waren, hatten an einen Klingelstreich geglaubt.
Nachdem den Tod ihres einzigen Kindes haben Stevens Eltern im Kiez von Bekannten Handzettel verteilen lassen, erzählt die Inhaberin des Secondhandladens für Kinderkleidung. Es sei kein hasserfülltes Pamphlet gewesen, sondern ein Appell an die Frau, sich zu melden, damit sich so etwas nicht wiederholt.
Der Vorgang „Dobermann“` umfasst mittlerweile vier Akten mit 400 Seiten. Ein „normaler“ Verkehrsunfall mit tödlichen Ausgang hat höchstens 15 Blatt. Den Kiez rund um den Boxhagener Platzes hat Schubert abgegrast. Wenn nicht noch ein überraschender Hinweis kommt, wird er den Fall nach Weihnachten ad acta legen. Er tendiert inzwischen zu der Ansicht, dass die Frau nur zu Besuch in Friedrichshain war „Dann gibt es kaum noch Chancen, sie zu ermitteln“.
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