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Der lange Weg nach vorn

DIE SPIELER DES JAHRHUNDERTS. FOLGE 8: DIE 60ER-JAHRE – Der junge Franz Beckenbauer stellte durchaus rebellisch die tradierten Wertvorstellungen des Fußballs in Frage ■ Von Ulrich Fuchs

Viele Jahrhundert-Fußballer sind schon gekürt worden. Aber alleJuroren übersahen immer das Problem mit den Äpfeln und Birnen: Wer will ernsthaft Fritz Szepan mit Uwe Bein vergleichen, welcher Maßstab soll für Eusebio und Michel Platini gleichermaßen gelten oder für Alfredo di Stefano und Rivaldo? taz-AutorInnen bewerten Spieler in ihrem Umfeld und in ihrer Zeit. Streng objektiv, versteht sich, mit subjektiver Auswahl. Unsere Serie wird alle 10 Jahrzehntedes 20. Jahrhunderts einzeln abdecken.

Kurze Übung zum Aufwärmen. Wir sagen probeweise: Franz Beckenbauer. Regt sich spontaner Widerwillen? Pures Entsetzen? Abscheu sogar? Gerade unter der Leserschaft dieser Zeitung? Was ja keine Überraschung wäre. Schließlich hat die feuilletonistische Nachhut des studentischen 60er-Jahre-Aufbruchs ganze Arbeit geleistet. Beckenbauer ist nicht erst unten durch, seit er sich als Franz Dampf durch alle Mediengassen plaudert. Er ist – zumindest was die kollektive Erinnerung der Linken angeht – auch als Fußballspieler Opfer eines ideologischen Richtungsstreits geworden. Effizienter Ergebniskick, kalter Angestelltenfußball, die Arroganz des Kapitals – Beckenbauer und sein FC Bayern galten den intellektuellen Interpreten des Spiels als Fortsetzung von Restauration und Kaltem Krieg auf dem Fußballfeld. Als Ikone, die auf dem Rasen, der die Welt bedeutet, für den gesellschaftlichen Aufbruch stand, wurde ein anderer installiert: Günter Netzer.

Der Gladbacher Spielmacher und seine Borussia werden bis heute als Sinnbild für das Aufbegehren gegen die Ordnung gefeiert, die Bayern vertrat. Und in der Lust und Leidenschaft, mit der sie das gegnerische Tor bestürmten, bejubeln die Apologeten dieses Geschichtsbildes den Versuch, die bestehenden Grenzen zu überwinden, mithin also das Versprechen auf eine bessere Welt. „Die weiten Pässe Günter Netzers“, schrieb Helmut Böttiger noch Anfang der 90er-Jahre, „atmeten den Geist der Utopie.“

Längst waren da aber schon die Flugbälle von Lothar Matthäus als Bumerang auf die Mythologisierer niedergegangen. Nur dass es mal wieder keiner gemerkt hat. Oder vielleicht auch nur nicht merken wollte. Wie man sich jenseits aller Projektionen auch beharrlich weigerte, die Rollen zu analysieren, in denen Netzer und Beckenbauer in der herrschenden Fußballordnung tatsächlich agierten. Sehr leicht hätte man dann nämlich erkennen können, dass die Bälle von Netzer so weit fliegen und so genau ankommen konnten, wie sie wollten – und trotzdem immer systemimmanent blieben. Beckenbauers Spiel, das oft ungleich unspektakulärer wirkte, war dagegen in jeder Sekunde ein Angriff auf eine Fußballordnung, die so verkrustet und unbeweglich war wie die gesellschaftlichen Verhältnisse in der ausgehenden Adenauer-Ära.

Wie es im Detail dazu kam, weiß keiner mehr ganz genau. Sicher ist nur, dass der junge Beckenbauer ab Mitte der 60er-Jahre aus dem bis dato rein defensiven Ausputzer einen Wandler zwischen den Welten machte. Damit wurde nicht nur eine Position verändert und der Libero erfunden; Beckenbauer stellte eine Auffassung in Frage, die bis dahin das Wesen des Spiels bestimmte: dass es in erster Linie ein Kampf Mann gegen Mann wäre und dass seine Organisation deshalb nach dem Prinzip einer strengen Arbeitsteilung funktionierte. Es hatte die Kreativen gegeben und die Drecksarbeiter – und dazwischen nichts. Bis der junge Franz aus der Position des hintersten Verteidigers den langen Weg nach vorne antrat.

Es war damals noch ein einsamer Weg. In Europa war ihn allein Giacinto Fachetti gegangen – als Linksverteidiger jener Mannschaft von Inter Mailand, die 1963 und 64 den Europapokal der Landesmeister gewann. Aber Beckenbauers Weg aus der Abwehrzentrale in die Offensive wog für die Entwicklung des Spiels noch ungleich schwerer. Weil er symbolisch wurde für die Idee der Moderne: In der Defensive (wo das schon vorher die Aufgabe des klassischen Ausputzers war) und in der Offensive Überzahlsituationen zu erzwingen. Ein technisch perfekter Spieler, der sich nicht zu schade ist, auch bei der Kärrnerarbeit des Verteidigens mitzutun – so sieht heute mehr denn je das Anforderungsprofil an Profis aus, die händeringend gesucht werden.

Günter Netzer hat allen Überhöhungen zum Trotz die genau entgegengesetzte Vorstellung tradiert. Er hat das Spiel vom Feldherrenhügel aus gelenkt, für Schmutzarbeiten sollten die anderen zuständig sein. Viele Jahre nach seiner Karriere hat er diesen streng hierarchischen Blick aufs Spielfeld in einem taz-Interview retrospektiv illustriert: „Herbert Wimmer war der Alltag, ich war der Sonntag.“ Die Behauptung, Beckenbauer wäre quasi auf Kosten von Hans-Georg Schwarzenbeck zu seinem Ruhm gelangt, zählt dagegen zu den perfidesten Geschichtsklitterungen.

Denn fußballspezifisch gesehen hat Beckenbauers Interpretation des letzten Mannes auch die Position seines Vorstoppers aufgewertet. Wenn der Libero vorne war, spielte die Bayern-Abwehr auf einer Linie, und Schwarzenbeck gab – wie man heute sagen würde – den zentralen Mann in einer Dreierkette. Dazu brauchte es mehr als einen stumpfen, kopfballstarken Treter. Während Herbert Wimmer in Gladbach sein Programm in der vorgegebenen Tradition des „Wasserträgers“ abspulte, musste Schwarzenbeck in München auch dem Vorstopper eine neue Dimension verleihen. Es war kein Zufall, dass er danach bei den Bayern den ersten und einmal auch in der Nationalmannschaft den Beckenbauer-Nachfolger gab. „Aber Libero“, sagt er heute, „kann man das nicht nennen.“ Als Makel begreift er das nicht. Weil es dazu auch gar keinen Grund gibt.

Wirklich tragisch ist dagegen, dass die eigentliche Idee des Beckenbauerschen Spiels ausgerechnet in Deutschland offensichtlich am wenigsten verstanden worden ist. Das schnelle Umschalten von Abwehr auf Angriff, der perfekte Kurzpass in der Spieleröffnung, der Versuch, in Ballnähe Überzahl zu erzielen – bei der 98er-WM haben Frankreich, Holland und Brasilien allen Kulturpessimisten demonstriert, wie der Weg des Spiels ins Freie führt. Franz Beckenbauer ist ihn ab Mitte der 60er-Jahre bei Bayern vorausgegangen. Und dass er in der Nationalmannschaft erst ab 1971 Libero spielen durfte, liest sich heute schon fast als Menetekel.

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