Kommentar: Aus der Balance ■ Das Ermittlungsverfahren gegen Kohl erschüttert die CDU
Das allgemein Erwartete, jetzt wird’s Ereignis: Die Staatsanwaltschaft Bonn wird wegen Verdachts der Untreue gegen einen ehemaligen Bundeskanzler ein Ermittlungsverfahren einleiten. Zwar für Kohl keine Premiere, wohl aber für das breite Publikum. Juristisch hat der Vorgang nichts Besonderes an sich. Ermittlungsverfahren werden oft so schnell wieder eingestellt, wie sie losgetreten wurden. Aber politisch zittert die Erde, zumindest für die CDU. Jetzt hilft das Seiltänzerkunststück nichts mehr, „zwischen nach vorne blicken und nach hinten aufräumen die Balance zu halten“ (Angela Merkel). Kohls hartnäckiges Schweigen über die Herkunft der Spendengelder zwingt die Partei zum Reden.
Für die CDU bietet sich der Ausweg, Kohls Schweigen als Ausdruck einer feudalen Vorstellungswelt zu werten. Danach sind die Untertanen treu, aber der König ist es auch. Er sorgt sich um die Seinen. Verteilt Pfründe und festigt das Lehnsverhältnis. Ehre und Treue, auch gegenüber den stillen Geldgebern.
Der jetzige Parteivorsitzende Schäuble hat das Stichwort vom „Patriarchen“ geschickt lanciert. Sein ideologischer Hintersinn ist klar: Mochten auch in der Vergangenheit in der CDU patriarchale Zustände geherrscht haben – mit dem neuen Parteivorsitzenden ist endlich Modernität eingekehrt, einschließlich eines durchsichtigen Rechnungswesens.
In Wirklichkeit gehört das „System Kohl“ keineswegs einer untergegangenen Gesellschaftsformation an, sondern ist Fleisch vom Fleisch der modernen deutschen Parteienstruktur. Nicht Kohls angeblich altväterliche Geldverteilungssitten anzuprangern wäre angesagt, sondern eine ehrliche Bestandsaufnahme zur inneren Auszehrung der Parteien, zu der Tatsache, dass kaum ein engagierter und kluger Mensch mehr ihnen beitritt, dass die Fäden, die die Parteien mit der Bevölkerung verbinden, immer dünner werden. Woraus ihre ständige Finanznot folgt, das Übel staatlicher Parteienfinanzierung und schließlich der begehrliche Blick auf die Geldbörse der Interessengruppen.
Vorschläge, wie sie der Politikwissenschaftler von Arnim zur Parteienreform äußert, stoßen auf geballtes Desinteresse auch in der Öffentlichkeit. Aber wohl feiler Zynismus angesichts der Dauerkrise der Parteien nutzt nur denen, die mit den Parteien auch die Demokratie zum Teufel wünschen. Christian Semler
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