Verantwortung für zwei

Laut Statistik bekamen 1997 in Deutschland 4.771 Minderjährige ein Kind. 79 von ihnen waren unter vierzehn Jahre alt. 928 der Mädchen waren verheiratet, 1.325 ausländische Staatsangehörige. In Berlin gibt es fünfzig Heimplätze für junge Mütter, jedoch nur eine Einrichtung mit angeschlossener Schule. Den Alltag jugendlicher Mütter dort beschreibt Julia Naumann

Can schreit wie am Spieß. Sein kleines Gesicht tränenverschmiert, wütend rudert er mit seinen Armen, als Hatun Sürücü ihn in den Kinderstuhl setzt. „Er hat eben Hunger“, sagt sie entschuldigend zu der Krippenerzieherin. Die schiebt ihm schnell einen Löffel warmen Brei in den Mund. Can rollt mit den Augen und gluckst zufrieden. „Tschüss, mein Süßer“, Hatun wirft ihm erleichtert eine Kusshand zu. Fünf Minuten später sitzt sie mit sieben anderen Mädchen im Klassenraum der MüLe (Mütter lernen), wo sie für ihren erweiterten Hauptschulabschluss lernt. Das Thema heute: Magnetismus.

In den ersten paar Minuten fällt es Hatun schwer, sich zu konzentrieren. Kein Wunder: Hatun hat schon einen langen Morgen hinter sich. Can wecken und anziehen, ihr Zimmer aufräumen. Sich mit den anderen Mädchen aus der „Grünen Gruppe“ um die Waschmaschine streiten. Dann hat sie sich auch noch ausgeschlossen und musste die Erzieherin um den Ersatzschlüssel bitten. Um etwas bitten – das macht Hatun nicht gern. Denn es erinnert sie daran, dass sie in einem Heim des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks lebt. Dass sie erst siebzehn ist und keine auf eigenen Füßen stehende Frau, obwohl sie schon einen Sohn hat, der ein halbes Jahr alt ist. In dem Heim, das an eine Jugendherberge erinnert, wohnen sechzehn weitere junge Mütter, alle zwischen fünfzehn und neunzehn.

Hierher zog Hatun vor zwei Monaten – in einen schlichten Neubau in Lichterfelde, einem bürgerlichen Bezirk im Süden Berlins. Zu Hause, erzählt sie, hat sie es nicht mehr ausgehalten. Mit ihren acht Geschwistern und den Eltern lebte Hatun in einer Vierzimmerwohnung in Kreuzberg. „Ich hatte keinen Schrank für Cans Sachen und musste mit ihm und all meinen Schwestern in einem Zimmer schlafen“, sagt sie, ohne wehleidig zu wirken. Ihr Leben war eigentlich ganz anders geplant. Verplant. Als sie 15 war, arrangierten ihre Eltern in der Türkei eine Hochzeit mit ihrem Cousin Ismail. Hatun, die in Berlin geboren wurde, zog nach Istanbul und wurde nach drei Monaten schwanger. Es war ein gewolltes Kind, betont sie. „Ich habe meinen Mann geliebt, sonst wäre ich nicht in die Türkei gegangen“, das klingt sehr ernsthaft. Doch weil es dann „Stress“ gab, mit ihrem Ehemann, mit den Schwiergereltern, ist sie schnurstracks zurück nach Berlin. Ihre Eltern haben die Trennung akzeptiert, denn auch sie hatten sich mit den Schwiegereltern überworfen. Eine komplette Fehlplanung eben.

Und deshalb lebt Hatun mit Can im Mutter-Kind-Heim und hofft darauf, bald in eines der drei Appartements zu ziehen. Dort wohnen die, die etwas selbstständiger sind. Zum Beispiel die siebzehnjährige Melanie Zimmermann mit ihrem Freund Emin und Tochter Aylin Asye. Melanie wurde schwanger, obwohl sie, wie sie sagt, „superregelmäßig“ die Pille genommen hat. „Erst war ich geschockt, aber nach drei Minuten wollte ich es.“ Melanie hat kaum noch etwas Kindliches in ihrem perfekt geschminkten Gesicht. Ähnlich wie Hatun wirkt sie sehr kontrolliert – erwachsen. „Wenn die Mädchen zu Müttern werden, dann machen sie einen riesigen Sprung“, hat die stellvertretende Leiterin des Heims, Elke Hespelt, beobachtet. „Sie haben den tiefen Wunsch, gute Mütter zu sein, aber ihre Ressourcen sind sehr unterschiedlich.“

Das Leben der meisten jungen Mütter im Heim ist bisher ziemlich chaotisch verlaufen. Die sehr frühen Schwangerschaften setzen sich oft über Generationen fort, und das Kind wird nicht selten als Hoffnungsträger für ein eigenständiges erfülltes Leben gesehen. „Hierher kommen die, die keinen sozialen Hintergrund mehr haben“, hat Hespelt erfahren. Das sei aber nicht gleichzusetzen mit sozial schwacher Schicht. Auch eine Professorentochter lebte schon mal in dem Heim. Die jungen Mütter haben kaputte Elternhäuser, kaputte Schullaufbahnen. Die Schwangerschaft als Ausweg aus der Misere: „Wurden sie emotional wenig versorgt, glauben sie, dass sie diese vermisste Liebe von dem Kind bekommen.“

„Wir gehen mit den Kindern perfekt um“, sagt Melanie selbstbewusst und ohne mit der Wimper zu zucken, während sie die kleine Aylin geduldig auf ihrem Schoß schaukelt. Füttern, wickeln, baden und nebenbei den Hauptschulabschluss machen, das ist anstrengend, „aber zu schaffen“. Aylin sei allerdings ein schwieriges Kind. „Sie ist häufig eine richtige kleine Zicke“, grinst Melanie etwas gequält. Neulich hat sie nachts stundenlang geschrien, „da hätte ich sie am liebsten geschüttelt“.

Auch eine ältere Mutter kann mal so reagieren oder etwa nicht, fragt Melanie. Es ärgert sie, dass die „Umgebung“, und damit meint sie ihre Mutter und die Erzieherinnen im Heim, ihr ständig die Selbstständigkeit absprechen. „Meine Mutter hat gesagt, ich sei nicht reif genug für ein Kind.“ Die beiden haben sich gestritten, und deshalb ist sie ins Mutter-Kind-Heim gezogen. Doch dort ist die Kontrolle groß. Die Heimregeln sollen denen einer Familie entsprechen. So möchte Hatun die sechshuundert Mark Erziehungsgeld für Cans Ausbildung sparen und bewahrt das Geld auf. Nicht auf einem Konto, sondern irgendwo. Wo, das sagt sie den Betreuerinnen nicht. Die wollen das aber gern wissen. „Ich weiß doch selbst, was ich mit meinem Geld mache“, sagt Hatun und verdreht die Augen.Hatun und Melanie fühlen sich erwachsen und damit auch verantwortlich. Deswegen finden sie auch die ewigen Fragen „total blöd“. Wie kann denn ein Kind Kinder in die Welt setzen? Verhütungsmittel gibt es doch heutzutage an jeder Ecke.

„Die meisten sagen, sie hätten sich geschützt und es sei ein Unfall gewesen“, weiß Elke Hespelt. Sie haben irgendwie verhütet. Wie zum Beispiel Claudia. Die Siebzehnjährige hat die Pille genommen, „aber nur ab und zu“, wie sie freimütig und fast ein bisschen stolz zugibt. Sie habe sich immer wieder überreden lassen, mit Jungs zu schlafen. Deswegen wisse sie auch nicht genau, wer der Vater ihres 10 Monate alten Sohnes ist.

Die frühen Schwangerschaften entstehen auch durch mangelndes Körpergefühl: Viele Mädchen haben nur ein sehr unvollständiges Bild ihres Körpers, sagt MüLe-Lehrerin Marianne Janitzki. Sie kenne einige Mädchen, die im fünften Monat nicht gewusst hätten, dass sie schwanger sind. Von ihrer Umwelt gebe es keine Anteilnahme: „Die hat wohl ein bisschen zugenommen“, hieß es, als der Bauch runder wurde. Abtreibung sei für die meisten Mädchen keine Alternative: „Das ist für sie Mord.“ Junge Mütter, hat Elke Hespelt beobachtet, würden häufiger als andere in die traditionelle Rolle der Frau schlüpfen, um es „besser“ als ihre Mütter zu machen.

Melanie sorgt nicht nur für ihr Kind, sondern auch für ihren Freund, der ebenfalls keinen Abschluss hat und von Sozialhilfe lebt: Sie kocht, wäscht, putzt – für alle drei. Sie sind bereits verlobt, berichtet sie stolz, und nächstes Jahr wollen sie heiraten. Melanie will noch ein zweites Kind. Irgendwann. Doch die Siebzehnjährige versucht auch ihren Status aufzuwerten. Genau wie Hatun. Beide wollen den erweiterten Hauptschulabschluss nachholen, komme was wolle. Das Heim, in dem sie leben, bietet dafür fast ideale Voraussetzungen. Sie können morgens ihre Kinder in der hauseigenen Krippe abgeben und lernen dann gruppenweise für den Abschluss. Gegen 15 Uhr holen sie die Kinder ab. Eine Erzieherin springt am Nachmittag, abends und notfalls in der Nacht ein, wenn es zu viel Geschrei und Stress gibt.

Hatun und Melanie geben beide kleinlaut zu, dass sie schon öfters daran gedacht hätten, die Schule abzubrechen. „Es ist einfach wahnsinnig anstrengend“, sagt Hatun. Melanie hat das alles durchgemacht. Nur zwei Monate, bevor sie den Abschluss auf einer regulären Hauptschule in der Tasche hatte, schmiss sie. „Aylin war so klein, ich konnte es nicht ertragen, sie tagsüber wegzugeben.“

Doch diesmal will Melanie es schaffen und Hatun auch. Hatun macht der Unterricht Spaß, sie findet alle Fächer „toll“. Besonders Physik. Als sie von der Lehrerin einen Magneten in die Hand gedrückt bekommt und sie diesen über den Tisch hüpfen lässt, lacht Hatun entspannt. Zum ersten Mal an diesem Tag. Ihre Gesichtzüge werden weich, fast kindlich.

Julia Naumann, 30, Redakteurin in der Berlinredaktion, sittet regelmäßig die Babytochter ihrer Freundin