piwik no script img

„Alles Idioten, aber hoch motiviert“

■ Mit Ach und Krach schafft Bremen den Sprung ins dritte Jahrtausend. Im vorauseilenden Rückblick auf das Jahr 2000 enthüllt die taz exklusiv Skandale, Abenteuer, Freudenmeldungen und alles, was sonst noch gewesen sein wird

1. Januar „Schlimm: Bremen abgesoffen!“ Unter dieser Überschrift berichtet die Bremer Redaktion der Bild-Zeitung in einer Abendausgabe über die Folgen des so genannten Millenium-Bugs beziehungsweise Y2Ks (sprich: wei tu käi) in der Hansestadt. Bei einem Computercrash in der Zentrale der swb-wasseria (früher: Stadtwerke) wurden alle Überlaufventile automatisch geschlossen. Die Folge: Nach den starken Regenfällen der letzten Tage stehen alle Keller im Bremer Westen und in der Neustadt unter Wasser. Unter dem Motto „Uns läuft die Galle über“ gründen Flutopfer eine Bürgerinitiative gegen die Überschwemmungen. Die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung bietet daraufhin ein Tagesseminar an. Das Thema: „Flutopfer – das revolutionäre Subjekt des 3. Jahrtausends?“

28. Januar Bei Werbeaufnahmen für die Ausstellung „Der blaue Reiter“ in der Bremer Kunsthalle entstand Sachschaden in Höhe von 23,5 Millionen Mark. Wie Kunsthallenchef Wulf Herzogenrath mit tränenverschmiertem Gesicht bekannt gab, ist ein Pferd durch das Museum galoppiert. Das blau gefärbte Tier hat während der Werbeaufnahmen den gelb kostümierten Jockey abgeworfen und alle Bilder mit Pflanzenmotiven angefressen. Die Kulturstaatsrätin Elisabeth Motschmann (CDU) kündigt daraufhin großzügige Hilfen des Senats an, was Regierungssprecher Klaus Schloesser schon wenig später mit den Worten „Nur Selbsthilfe ist echte Hilfe“ dementiert.

16. Februar Während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Kultursenator Bernt Schulte erklärt Theaterintendant Klaus Pierwoß seinen Rücktritt. „Das ist wirklich der Kulminationspunkt der grotesken Bremer Theaterpolitik“, donnerte der Chef zum letzten Mal vor der versammelten Presselandschaft und den eigens eingeflogenen Pierwoßfans Dirk Schümer (FAZ), Gerhard Jörder (ZEIT) und Michel Piccoli (LE MONDE). Schulte bedauerte zutiefst, dass Pierwoß nicht bereit war, die Tariferhöhungen aus seinem eigenen Portemonnaie zu zahlen. Auch das Angebot, im Tanztheater eine tragende Rolle auf der Bühne zu spielen, habe Pierwoß nicht umstimmen können. „Wie Sie wissen, schätze ich die Arbeit von Herrn Pierwoß hoch“, sagte Schulte und hielt zum Beweis sein Jahresabo in die Fernsehkameras. Dem Vernehmen nach liegen Pierwoß Angebote der Unternehmensberatung McKinsey und der Freilichtbühne Lilienthal vor.

17. Februar Einen Monat nach der Inhaftierung des Ex-Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) wird auch Bremen von einem Parteispendenskandal erschüttert. Bürgermeister Henning Scherf (SPD) soll dem Regionalmagazin Buten & Binnen zufolge jahrzehntelang kostenlos Milch und Tee von den Firmen Bremerland und Teehandelskontor bezogen haben. „Ich bin nicht bestechlich, da bin ich ganz optimistisch“, weist Scherf die Vorwürfe verärgert zurück. In einem Exklusiv-Interview mit dem Weser-Report sagt Scherf: „Wer das Gegenteil behauptet, kann gehen.“

27. Februar Die anhaltende Abwanderungswelle von Bremern wird zu einem großen Problem für die Finanzen der Hansestadt. „Seit Mitte Februar haben 100.000 Bremer die Stadt verlassen“, rechnet Finanzsenator Hartmut „Gutes-Geld – schlechtes-Geld“ Perschau (CDU) aus. Das führe zu Einnahmeverlusten in Höhe von 800 Millionen Mark jährlich. Doch die Sanierung Bremens sei nicht ernsthaft gefährdet. Perschau: „Das gleichen wir alles durch kreative Minderausgaben wieder aus.“ Die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung bietet spontan ein Tagesseminar an: „Der Stadtflüchtling – das revolutionäre Subjekt des 3. Jahrtausends?“

Um den 3. März „Bremen muss Bücherstadt werden.“ Unter diesem Motto stehen in Bremen die Feierlichkeiten zum 600. Geburtstag von Johannes Gutenberg. Bei einem Festakt in der Oberen Rathaushalle kündigt Bürgermeister Henning Scherf die Gründung eines Bremen-Book-Centers an. Es soll in den leer stehenden oberen zwölf Etagen des Siemens-Hochhauses untergebracht werden. Die Kosten in Höhe von 29 Millionen Mark seien „gut angelegtes Geld“, erläutert Scherf. Festredner Günter Grass („Henning ist knorke“) raucht daraufhin eine Friedenspfeife und hält einen Vortrag zum Thema: „Ich und die SPD – wie ich im Alter meinen Frieden mit ihr gefunden habe.“

8. Juni Das Tal der kleinen Beeke bei Groß Bramstedt trocknet aus. Wie die taz unter Berufung auf den Naturschutzverband BUND berichtet, ist die Trinkwasserentnahme durch die swb-wasseria (früher Stadtwerke) dafür verantwortlich. „Der kleine Buckelfisch ist gefährdet“, so Martin Rode vom BUND. „Wir fordern deshalb dringend eine Trinkwassergewinnung aus der Weser.“ Dazu der neue swb-wasseria-Vorstandschef Jens Eckhoff: „Ach, sollen die Fische doch einfach ein paar Kilometer weiter schwimmen.“

15. Juli Auch zum neuen Schuljahr kann die volle Halbtagsschule in Bremen nicht eingeführt werden. Mit den Worten „Leider, leider“ gesteht Bildungssenator Willi Lemke (SPD) Schlampereien in seiner Behörde ein („Alles Idioten, aber hoch motiviert!“). Um aufgebrachte Eltern zu beschwichtigen werde über Modelle wie „Halbe Vollzeitschule“, „Volle Teilzeitschule“ oder „Schulische Teilvollzeit“ nach sächsischem Vorbild nachgedacht. Zur Erläuterung seiner Pläne turnt Lemke einen halben Handstand.

19. Juli Innensenator Bernt Schulte reagiert auf die nicht abreißende Kritik an den Zuständen im neuen Abschiebeknast mit einer spektakulären Aktion. Um zu beweisen, dass es ohne weiteres möglich sei, über einen längeren Zeitraum unbeschadet in einer gekachelten und fensterlosen Zelle zu verbringen, wolle er einen Teil der Sommerferien im leeren Becken des Hallenbades Süd verbringen. Anschließend werde er sich für zwei Wochen nach Togo abschieben lassen. Damit werde er dem im Bremer Untergrund lebenden Togoer Abass zeigen, dass seine Heimat ein durchaus lebenswertes Fleckchen Erde sei.

13. August Nach der kleinen Beeke in Groß Bramstedt droht jetzt auch die Weser trocken zu fallen. Die Schiffe an der neu gestalteten Schlachte liegen mit dem Kiel schon auf Grund. Wie die taz berichtet, ist die Trinkwasserentnahme durch die swb-wasseria (früher Stadtwerke) dafür verantwortlich. „Wegen des heißen Sommers trinken die Bremer immer mehr“, so der neue swb-wasseria-Vorstandschef Martin Rode. Der Verbrauch sei um 800 Prozent gestiegen. In einem Kommentar für das Fernseh-Regionalmagazin Buten & Binnen denkt Jens „Was macht der denn da im Studio?“ Meier laut darüber nach, dass die Weser nunmehr doch aus Bremen wegzudenken sei. Weser-Kurier und Weser-Report rufen daraufhin zum Boykott Radio Bremens auf. Die Kulturwelle Radio Bremen 2 verliert in den nächsten Wochen zwei ihrer fünf Hörer. „Das ist bedauerlich, aber nicht weiter tragisch“, kommentiert der Senderchef Heinz Glässgen.

15. September Nur wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Togo macht ein braun gebrannter Innensenator Bernt Schulte erneut von sich reden. Per Pressemitteilung lässt er verlauten, dass zum Jahresende alle noch amtierenden Ortsamtsleiter entlassen werden. In Togo habe er die ermutigende Erfahrung gemacht, dass Gemeinwesen auch ohne solche Stellen reibungslos funktionieren. Die frei gewordenen Finanzmittel werde er für die Straßenreinigung verwenden. Die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung reagiert auf diese Ankündigung mit einem Wochenendkurs „Der Ortsamtsleiter – das revolutionäre Subjekt des 3. Jahrtausends?“

15. November Auf einer Pressekonferenz verkündet Kultur- und Innensenator Bernt Schulte (CDU) die neuesten Zahlen der Bremer Kriminalitätsstatistik. Wie bereits im letzten Jahr, so sei auch im Jahr 2000 die Anzahl der Straftaten deutlich zurückgegangen. Das subjektive Bedrohtheitsgefühl der BürgerInnen sei aber nach wie vor hoch, wie eine repräsentative Umfrage unter seinen Schwiegereltern ergeben habe. Deshalb müsse die Polizeipräsenz überall dort, wo Schwiegereltern leben, deutlich erhöht werden, folgert der Senator. Zwar habe er kein Geld, um neue PolizistInnen einzustellen. Aber er gehe davon aus, dass aus dem Heer jener SoziokulturmitarbeiterInnen, die seit den erzwungenen Kürzungen im Kulturbereich auf der Straße herumlungerten, einige bereit seien, eine temporäre und gewohnt schlecht bezahlte Anstellung im Dienste der Allgemeinheit dankbar anzunehmen.

18. November „Synergie vor Ort“: Unter dieses Motto stellt der Radio-Bremen-Intendant Heinz Glässgen die neue Programmstruktur seines Senders. Hansawelle, Radio Bremen 2, 3 und 4 werden zur „Weserwelle – eine Welle für alle von hier“ fusioniert. Die Kulturjournale (Glässgen: „Wir haben schließlich einen Bildungsauftrag!“) werden von ausgeschlafenen Moderatoren in der Zeit von Mitternacht bis vier Uhr morgens präsentiert. Die restliche Zeit gibt es einen flotten Mix aus Staumeldungen, Wetterprognosen zu jeder vollen Viertelstunde und einem Musikpotpourri für alle Generationen. Die freien Direktorenstellen werden nicht wiederbesetzt (Glässgen: „Ich brauche keinen Wasserkopf!“).

19. November „Tief beeindruckt“ zeigte sich Kultur- und Innensenator Bernt Schulte von den kreativen Plänen des Radio-Bremen-Intendanten Heinz Glässgen. Er könne sich vorstellen, dass der Senderchef auch die Leitung des Bremer Theaters übernimmt. „Wie Sie wissen, schätze ich Synergieeffekte hoch.“ Glässgen hat sich Bedenkzeit ausgebeten.

15. Dezember „Ocean Park kommt – Die Verhandlungen mit der Wiesbadener Köllmann-Gruppe stehen kurz vor dem Abschluss“. Das berichtet die Bremerhavener Nordsee-Zeitung in ihrer heutigen Ausgabe. Unter Berufung auf gut informierte Kreise beim Senator für Wirtschaft werde der Ocean Park als Modullösung verwirklicht. Unter dem Motto „Synergie ist Energie“ plane Köllmann die verschlankten Attraktionen „Blaues Planetchen“, „Unterwasser-Weltchen“ und „Aquariumchen“. Der Bremerhavener Magistrat zeige sich überzeugt, dass damit insbesondere TouristInnen aus dem Ruhrgebiet an die Küste gelockt werden können. Zur Detailabstimmung bewilligten die Wirtschaftsförderungsausschüsse weitere 78 Millionen Mark Planungsmittel und verlängerten die Frist zur Vorlage der Ergebnisse auf den 31. Dezember 2016. „Danach ist aber wirklich definitiv Schluss“, sagte Wirtschaftssenator Josef Hattig in einem Hintergrundgespräch mit JournalistInnen.

Franco Zotta, Christoph Köster

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen