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Auf den Straßen der Stadt

Die Wohnungslosigkeit ist keine Tragödie an sich. Der soziale Absturz beinhaltet auch Möglichkeiten. Das Gespräch mit dem New Yorker Obdachlosen und Buchautor Lee Stringer führte ■ Martin Hager

taz: Ihr Buch über Ihr Leben auf den Straßen New York ist ja nun nicht eines von der „Big Apple“ Sorte. Dennoch scheint ihnen New York sehr zuzusagen?

Lee Stringer: Ich identifiziere mich mit der Stadt, zumal ich einige Jahre in einem ihrer größten öffentlichen Gebäude gewohnt habe [als Obdachloser im Grand Central Station]. Ich liebe New York.

An amerikanischen Werten oder dem „American Dream“ scheint Ihnen aber nicht viel zu liegen.

Amerika ist die einzige Nation auf der Erde, die auf einer gemeinsamen Idee gründet und nicht auf gemeinsamer Erfahrung oder gemeinsamer Geschichte. Wenn man uns unseren Mythos nimmt, den „American Dream“, sind wir nur noch eine riesige heterogene Gruppe von Menschen, die sich ein großes Stück Land teilen. Ich persönlich halte nicht so viel von diesem Mythos. Was New York anbelangt, die wichtigsten Momente meines Lebens haben hier stattgefunden, das bindet mich an die Stadt.

Junge Immigranten in Deutschland identifizieren sich kaum mit Deutschland, mit Großstädten wie Berlin aber schon. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer eigenen Situation?

Die Grundbedingungen sind anders. Assimilation hat hier in Deutschland eher etwas mit Rasse zu tun. Es gibt ein Volk der Deutschen, ein Volk der Amerikaner gibt es nicht.

Aber es gibt Schwarze und Weiße.

Das ist ein anderes Thema, und es hat nichts mit New York zu tun. Was zwischen Schwarzen und Weißen abläuft, also zwischen Amerikanern, die aus Europa kommen und den anderen, ist Folge einer falschen Vorstellung, nämlich dass es sich hier um einheitliche Gruppen handelt. Die Weißen beispielsweise sind ja nicht alle gleich. Die Europäer haben einen Großteil ihrer Geschichte mit dem Versuch zugebracht, sich gegenseitig zunichte zumachen. Erst wenn sie unter Nichteuropäern sind, werden sie zu einer zusammenhängenden Gruppe und werden Weiße. Rassismus hat nicht viel mit Städten oder Territorium zu tun.

Könnte es auch daran liegen, dass in der Stadt Reibungen eher zugelassen werden?

Das ändert sich ja gerade. Es wird versucht, New York zu einer Stadt mit viel weniger Reibung zu machen. Die Stadt will ja nicht nur keine Obdachlosen mehr, sie will nicht einmal mehr die Mittelklasse. Die hat nicht genug Geld. Manhattan ist eine Insel, die im Grunde ein riesiger Laden ist.

Um ausreichend Geld in diese Insel zu pumpen, brauchen die Leute immer dickere Geldbeutel. Der Trend in New York City ist, einen Ort zu schaffen, der einladend ist für die obere Mittelschicht und darüber – und für die Touristen: „Kommt her, lasst euer ganzes Geld da und dann geht aus dem Weg.“

Wie ist es mit Ihrer persönlichen Geschichte? In dem Buch kann man leicht den Eindruck erhalten, Sie wären selbst abgestürzt, aus der Welt der Reichen in die Obdachlosigkeit.

Das stimmt so nicht. Ich hatte meine eigene Firma in den Achtzigern und ein ordentliches Einkommen. Aber es hat mir nichts gegeben, mich nicht erfüllt. Das waren eben die Achtziger. Das Ding war, mehr zu kriegen und mehr zu sein, zu raffen und zu konsumieren.

Als dann mein Vater, mein Bruder und mein Geschäftspartner hintereinander gestorben sind, hat es mich einfach nicht mehr interessiert, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Als ich auf der Straße gelandet bin, dachte ich nicht: „Oh Gott, was passiert mit mir.“ Es ging mir nicht erst wunderbar und dann traf mich die Tragödie der Obdachlosigkeit. Obdachlosigkeit ist nur ein Umstand, der durch Probleme hervorgerufen wird. Das Problem geht dem Weg auf die Straße voraus. Als der Gerichtsvollzieher in meine Wohnung kam, um mich vor die Tür zu setzen, sagte ich mir: „Auf geht's. Mal sehen, was kommt.“ Ich war optimistisch.

Das heißt, die Obdachlosigkeit war zu diesem Zeitpunkt für Sie okay?

Das Leben ist eine Reise und das war ein Teil meiner Reise. Jeder stürzt mal, aber das beinhaltet ja auch Möglichkeiten. Zumindest lernt man etwas kennen, was man vorher nicht kannte. Kein Mensch hat nur Erfolge und keiner nur Fehlschläge.

Glauben Sie, dass diese Haltung für alle gilt, die in Umständen leben, wie Sie es getan haben? Sind Sie nicht vielleicht anders, weil Sie sich immer Ihren Ehrgeiz bewahrt haben, sogar beim Sammeln von Dosen?

Ich glaube nicht. Ich muss immer gegen die Leute ankämpfen, die enttäuscht sind von dem Bild des Lebens auf der Straße, das ich zeichne. Es stimmt nicht mit dem überein, was sie sich vorstellen. Das tut mir Leid, aber ich bin nicht hier, um Ihren Verdacht zu bestätigen. Ich habe festgestellt, dass die Leute, die ich auf der Straße getroffen habe, nicht in einem Zustand konstanter Verzweiflung leben. Sie passen sich an. Bei einer Radioaufnahme wurde mir dieselbe Frage gestellt. Ich habe gesagt: „Schauen Sie sich um. Wir sitzen in einem fensterlosen, schalldichten Raum und sprechen in einen Berg elektronischer Geräte. Das ist doch nicht natürlich, aber wir akzeptieren es als normale Realität.“ Da sollte es doch die Fantasie nicht überanstrengen, sich vorstellen zu können, dass die Leute, die auf der Straße leben, nicht ständig herumlaufen und denken: „Oh, mein Gott, ich lebe auf der Straße.“ So ist es einfach nicht.

Haben Sie deshalb Ihr Buch geschrieben?

Ja. Wir alle kriechen auf dieser Murmel herum, und versuchen, intakt zu bleiben. Manche haben mehr Requisiten als andere, aber na und, wir machen doch alle dieselbe Sache.

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