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„Manche denken, wir sind eine Räuberbande“

■ Sie stören sich am Hundekot, stöhnen über den Autoverkehr und haben Angst vor Punkern: In einem bislang einzigartigen Projekt berichten 800 Kreuzberger Kinder über ihren Alltag und warum sie ihre Straße trotzdem mögen. 80 Prozent der Viert- bis Sechstklässler sind nicht deutscher Herkunft

Berkan, Köpenicker Straße: Meine Straße ist sehr lang und breit. Wo ich wohne, gibt es viele Altbauhäuser. Ich mag unser altes Haus sehr, weil ich mich dort sehr wohl fühle. Aber eine Sache stört mich trotz allem. Wir wohnen sehr nahe zur Kreuzung zum Schlesischen Tor. Auf meiner Straße fahren tausende von Autos. Sie machen so viel Krach, auch in der Nacht. Man kann manchmal seine eigene Stimme nicht hören.

In dieser Straße wohnen viele meiner Freunde. Zum Beispiel Cemal, Sevki, Melek, Murat. Wir haben alle ein paar Geschwister. Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, denken die Leute manchmal, dass wir eine gefährliche Räuberbande sind. In meiner Straße gibt es etwas, was es sonst nirgendwo gibt. Das ist unsere „Schatzinsel“. Sie ist unser Treffpunkt. Besonders in den Ferien, wo ich mich ohne Schule sehr langweile, bin ich gerne dort. Meine Freunde und ich können den ganzen Tag da spielen, basteln und vieles lernen, was wir noch nicht wissen.

Hinter unserem Haus gibt es einen Hof. Gleich daneben fließt ein Fluss, die Spree. Auch auf dem Hof kann man sehr schön spielen. Er ist unser zweiter Treffpunkt. Auf unserem Hof liegt Holz herum. Einmal wollte ich für uns eine Rutsche basteln. Als ich eine Latte auf die Lehne der Sitzbank stellte, fiel sie gleich herunter. Sie wäre beinahe in der Spree gelandet. Ich habe sie in letzter Sekunde festhalten können. Da kam auf einmal der Hausmeister. Ich wollte wegrennen. Er hat mich aber doch gefangen und mir eine Backpfeife gegeben. Ich wohne gerne in dieser Straße. Aber der Name Köpenicker gefällt mir nicht so sehr. Alle Kinder, auch ich, die hier wohnen, sind in Berlin geboren. Darum würde ich ihr den Namen Berliner Straße geben.

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Yasemin, Wrangelstraße: In der Wrangelstraße gibt es sehr schöne Altbauhäuser. In so einem Haus wohne ich. Meine Straße ist eine sehr lange, breite Straße. Viele Autos fahren hier durch. Es gibt keine Ampeln auf meiner Straße, aber viele Laternen. Ein paar davon scheinen in der Nacht direkt in unser Zimmer. Ich beobachte die Schatten an der Zimmerdecke, bis ich einschlafe. In der Nähe von unserem Haus gibt es eine Firma, die DeTeWe heißt. Früher arbeitete meine Mutter dort. Sie ist Schneiderin von Beruf. Sie hatte bis vor einem Jahr hier in unserer Straße eine Schneiderei. Wenn sie manchmal draußen zu tun hatte, dann musste ich auf den Laden aufpassen, bis meine Mutter kam, und die Kunden unterhielten sich solange mit mir.

Etwas weiter entfernt von unserem Haus gibt es eine Schule. Dort lernen junge Menschen verschiedene Berufe. Sie rauchen immer draußen vor der Tür. Ich war auch einmal drinnen in dieser Schule. Als wir Kinderfest feierten, brachte uns unser Folklorelehrer dorthin, und wir zeigten unsere Tänze den Gästen. Unser Folkloreverein ist auch in der Wrangelstraße. Jeden Sonntag gehe ich mit meinen Brüdern dorthin. Man lernt dort viele Tänze und übt Saz zu spielen.

Ich fühle mich in meiner Straße sehr wohl. Trotzdem würde ich gerne woanders wohnen können. Der Name Wrangel gefällt mir bei meiner Straße nicht so sehr. Den würde ich auch wechseln wollen. Ich würde meiner Straße den Namen Schnellwachsler geben, weil alle Kinder so schnell wachsen. Natürlich außer ich!!

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Julia, Leuschnerdamm: Mein Vater wohnt am Leuschnerdamm 1. Dort, wo früher das Engelbecken war. Es wurde am Anfang des Jahrhunderts zugeschüttet. Die für das Engelbecken verantwortlichen Leute wollten es wieder aufbauen, aber ihnen ist das Geld ausgegangen.

Deshalb ist dort jetzt eine Baustelle. Am Leuschnerdamm ist ein kleiner Kindernbauernhof, auf dem es viele Tiere gibt. Es ist schon toll, von einem Hahn geweckt zu werden, wenn man mitten in der Stadt wohnt. Auch wenn der Hahn etwas gestört ist: Er kräht nämlich alle zehn Minuten, laut und sogar nachts. Früher war das Haus beinahe direkt neben der Mauer, die Berlin trennte. Damals wohnte mein Vater mit meiner Mutter zusammen.

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Muhammer, Adalbertstraße: Ich wohne in der Adalbertstraße 74 im vierten Stock. Hier passieren öfters schlimme Dinge. Einmal war in unserem Keller ein Punker. Er sah aus, als ob er tot wäre. Wir haben dem Hausmeister Bescheid gesagt. Der Hausmeister hat mit einem Helfer den Mann weggetragen. Unser Keller ist immer offen, und deswegen habe ich Angst. In unserem Treppenhaus sind manchmal auch Punker. Einmal traute ich mich nicht hoch, da haben mich Freunde begleitet. Auf unserem Hof ist manchmal nichts los. Uns ist dann immer langweilig.

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Gülcin, Schlesische Strasse: Meine Straße liegt in Kreuzberg und heißt Schlesische Straße. Ich glaube, ihr Name lautet so, weil sie in der Nähe vom Schlesischen Tor ist. Ich kam aus einer Kleinstadt nach Berlin und habe erst hier gemerkt, wie groß der Unterschied ist. Die Straße, in der ich früher wohnte, war klein, schmal, nicht so dreckig und wurde selten befahren. Die jetzige Straße ist genau das Gegenteil. Sie ist groß, breit und lang, ist von morgends bis abends sehr belebt und wird auch immer befahren. Da sie groß ist, ist sie auch sehr dreckig, man muss aufpassen, dass man nicht in Hundehaufen, Kaugummis oder Ähnliches tritt.

Morgends, wenn ich aus dem Haus gehe, ist sie voll mit Menschen, die zur Arbeit und zur Schule wollen. Viele Leute laufen dann hektisch durch die Gegend. In der Straße passiert alles irgendwie in einem Kreislauf, denn jeden Tag sitzen die gleichen Leute am Fenster und beobachten die Gegend.

Jeden Tag sitzen Männer mit Alkoholflaschen oder -dosen vor einem Laden oder am Straßenrand und betrinken sich von früh bis spät. Immer fahren hunderte von Autos durch die Straße, und am U-Bahnhof stehen immer die gleichen Menschen und bitten um Fahrkarten.Oft frage ich mich, ob das immer so sein wird.

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Abdullah, Kottbusser Straße: Ich wohne in der Kottbusser Straße. Meine Straße ist sehr schön, weil ich sie mag und weil nebenan Lidl ist. Da gibt’s auch einen Park, weil ich diesen Park liebe. Ich mag auch meine Haustür, weil sie weiß ist.

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Luara, Paul-Lincke-Ufer: Als ich im Paul-Lincke-Ufer einzog, war ich ungefähr vier Jahre alt. Damals war alles unbekannt, der Kanal, der kleine Platz mit den Bänken und die Boule-Spieler. Im Sommer saß ich öfter abends am Fenster und sah mir die schönen, glänzenden Schiffe an, die eine Abendrundfahrt auf dem Kanal unternahmen. Was ich schon immer besonders mochte, war der schöne große Baum vor meinem Fenster, der im Frühling wunderschön duftete, wenn die Knospen aufblühten, und der im Sommer so gut wie kein Licht durch mein Fenster ließ.

Das war nicht schlimm, denn wenn im Herbst die Blätter auf die Straße abfielen und sie in einen goldenen Weg verwandelten, kam das Mondlicht ins Fenster rein und beleuchtete mein Zimmer.

Die Umgebung ist fast wie ein Dorf. Aus dem Küchenfenster kann man den hässlichen Betonhof sehen, wo Mülleimer stehen und ab und zu eine Ratte.

Leider bin ich in die Wiener Straße umgezogen. Zwar ist dort eine Disco und der Park gegenüber, doch es ist und wird nie so vertraut und schön wie im Paul-Lincke-Ufer sein.

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