: Türkei im Jahr eins nach dem Beben
10 Milliarden Mark Schaden sind dem Staat entstanden. Internationale Kredite sollen vor allem Bauwirtschaft und Tourismus wieder ankurbeln ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
„Wird die Türkei ökonomisch wieder zu einem Entwicklungsland?“ Diese bange Frage stellte sich unmittelbar nach dem Erdbeben im August des letzten Jahres das Essener Zentrum für Türkeistudien. Rund zehn Milliarden Mark Schaden sind dem türkischen Staat durch zerstörte Straßen, Kommunikationslinien und Industrieanlagen entstanden, inklusive der Steuerausfälle.
Dabei unberücksichtigt sind allerdings die privaten Verluste der rund 600.000 Menschen, die durch die Beben vom August und November ihr Hab und Gut unter Trümmern begraben sahen.
Das Beben versetzte der türkischen Wirtschaft 1999 einen gewaltigen Schlag und führte letztlich zu einem Minuswachstum von knapp zwei Prozent. Verantwortlich dafür aber war auch eine Rezession, die das Land bereits seit dem Rubeleinbruch in Russland vor eineinhalb Jahren erwischt hatte. Durch den Zusammenbruch in Russland verloren die türkische Bauwirtschaft und Konsumgüterindustrie einen ihrer wichtigsten Märkte, sodass das Wachstum nach etlichen erfolgreichen Jahren sowieso schon stagnierte. Die Erdbebenschäden vervollständigten diesen Negativtrend.
Bereits vor dem Beben verhandelte die im Mai neu angetretene Regierung von Bülent Ecevit deshalb intensiv mit dem Internationalen Währungsfond (IWF), um den 17. Stand-by-Deal zwischen der türkischen Republik und dem IWF unter Dach und Fach zu bringen. Der einen Tag vor Weihnachten abgeschlossene Vertrag, nach dem die Türkei innerhalb von drei Jahren ab 2000 insgesamt acht Milliarden Mark erhält, gilt nun als Wendemarke für die Wirtschaft. Der Abschluss des IWF-Vertrages zusammen mit dem zwei Wochen zuvor verkündeten EU-Kandidatenstatus löste an der Istanbuler Börse ein Kursfeuerwerk aus. Geschickten Investoren gelang es, ihren Einsatz innerhalb eines Monats zu verdreifachen.
Auf Druck des IWF hat die Regierung Ecevit inzwischen mehrere Gesetze verabschiedet, die die türkische Gesellschaft nachhaltig verändern werden. Von den Gewerkschaften heftig bekämpft, wurde das Rentenalter drastisch heraufgesetzt (bislang konnte man nach 15 Arbeitsjahren bereits eine kleine Rente beziehen), die Verfassung geändert, um ausländische Investoren zu schützen, die Bankenaufsicht verschärft und ein rigoroses Programm zur Inflationsbekämpfung verabschiedet.
Für 1999 lag die Inflationsrate für Verbrauchsgüter bei 68 Prozent, dieses Jahr soll die Inflation auf 20 Prozent reduziert werden. Das bedeutet, dass der gesamte öffentliche Dienst in diesem Jahr nur noch mit Lohnerhöhungen von maximal 20 Prozent rechnen kann, aber beispielsweise auch die Mieten per Gesetz auf eine maximale Erhöhung von 20 Prozent begrenzt werden sollen. Die Zinsen sinken bereits jetzt rapide, was zu einem weiteren Run an die Börse führt. Da die türkische Gesellschaft seit 20 Jahren mit einer Inflationsrate lebt, die regelmäßig über 50, in einigen Jahren sogar über 100 Prozent lag, käme eine Reduktion der Inflation auf 20 Prozent einer Revolution gleich.
Für dieses Jahr wird mit einem Wachstum von rund fünf Prozent gerechnet. Denn der Abschluss des IWF-Vertrages bringt erfahrungsgemäß nicht nur das Geld aus Washington sondern auch wieder vermehrt ausländische Investoren ins Land. Dazu kommen die verbesserten Beziehungen zur EU.
Türkische Zeitungen berichteten in den letzten Tagen, dass vor allem europäische Tourismuskonzerne im Moment im großen Stil einkaufen. Das Investitionsschutzgesetz, das Ende der Kämpfe mit der PKK und die stärkere Entwicklung hin zur EU haben im Tourismusgeschäft enorme Erwartungen ausgelöst. Die Konzerne rechnen mit hohen Zuwachsraten vor allem bei deutschen Touristen.
Doch nicht nur der Tourismus wird Geld bringen, auch die Bauindustrie rechnet mit goldenen Zeiten. Da die beiden Beben fast drei größere Städte und etliche kleinere Siedlungen zerstört haben, gibt es viel zu tun. Und Geld zum Wiederaufbau ist da. Die Regierung hat eine Erdbebensteuer erhoben. EU, Weltbank, IWF und die USA haben zusammen rund zwei Milliarden Dollar an Erdbebenhilfe zur Verfügung gestellt, jetzt fehlt nur noch die Planung. Nach dem staatlichen Chaos in den ersten Wochen der Katastrophenhilfe war der vom Ministerpräsidenten eingesetzte Krisenstab bis Ende des Jahres hauptsächlich damit beschäftigt, für die rund 500.000 Obdachlosen, die nicht bei Verwandten unterkommen konnten, Zelte oder Wohncontainer zu beschaffen.
Erst jetzt beginnt die Planung für den Neuaufbau. Dabei geht es auch darum, ob Städte wie Adapazari oder Düzce, die auf einer Bruchlinie liegen, die bereits mehrfach aktiv geworden ist, überhaupt wieder da aufgebaut werden sollen wo sie vorher standen. Und die Bürokratie gerät in ein kaum lösbares Dilemma. Um beim Wiederaufbau sicherzustellen, dass nicht wieder geschlampt wird, oder Baukonzerne gegen einen geringen Aufpreis bei den örtlichen Genehmigungsbehörden Bauten durchsetzen, die nicht der Norm entsprechen, wird nun alles zentralisiert. Das bedeutet aber auch Verzögerungen und neue Unübersichtlichkeiten.
Deshalb warten viele Leute nicht auf den Staat, sondern beginnen von sich aus, ihre Häuser da wieder aufzubauen, wo sie vorher standen und ihnen zumindest noch die Grundstücke gehören. In Adapazari, einer Stadt die nach einem Beben in den Sechzigerjahren schon einmal verlegt werden sollte, zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Bürokratie den Wettlauf verlieren wird. Statt auf den grossen Wurf von oben zu warten, entsteht die Stadt nach dem Prinzip „Chaos“ der über Nacht erbauten Hütten neu. Wie andernorts diese Slums sich nach und nach zu anerkannten Stadtvierteln mausern, wird auch Adapazari wieder stehen, bevor die Staatsplaner sich geeinigt haben.
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