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Europa rettet Abdullah Öcalans Kopf

Weil sie die Annäherung des Landes an die EU nicht gefährden will, beschließt die türkische Regierung, die Parlamentsabstimmung über die Hinrichtung des PKK-Chefs zu verschieben ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

„Vollstreckung verschoben.“ Betont sachlich reagierte die wichtigste türkische Tageszeitung Hürriyet gestern auf die bislang schwierigste Entscheidung der Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit, die Akte „Abdullah Öcalan“ vorerst auf Eis zu legen. Die liberale türkische Öffentlichkeit ist über diesen Beschluss erleichtert, dass rechte Lager dagegen entsetzt.

„Die Regierung hat die Wunden der Angehörigen wieder aufgerissen“, klagte ein Anwalt, der in dem Prozess gegen Öcalan die Angehörigen von Opfern der PKK vertreten hatte und die rechte Zeitung Türkiye sieht das Land bereits in den Klauen Europas: „Wenn wir heute die Hinrichtung aussetzen, gibt es morgen neue Eingriffe.“

Nach einer sieben Stunden dauernden Krisensitzung hatten sich am Mittwoch abend die Führer der Demokratischen Linkspartei (DSP), Ecevit, der Mutterlandspartei (Anap), Mesut Yilmaz, und der ultrarechten Partei der Nationalen Bewegung (MHP), Devlet Bahceli, darauf geeinigt, vor weiteren Schritten abzuwarten, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zum Fall Öcalan zu sagen hat. In den Augen der Nationalisten kommt dies einer Begnadigung des Mannes gleich, den sie für 30.000 Tote verantwortlich machen.

Tatsächlich ist die Entscheidung jedoch noch längst nicht das Schlusswort im Fall Öcalan. Bislang war die Justiz am Zug, jetzt ist die Politik gefragt. Todesurteile müssen in der Türkei von Parlament und Präsident bestätigt werden.

Seit Monaten haben die rechten Nationalisten der MHP, die die zweitgrößte Koalitionspartei stellen, auf den Moment gewartet, endlich über Öcalans Hinrichtung im Parlament abstimmen zu können. Da sie zusammen mit der Opposition die Mehrheit haben, gingen sie davon aus, den PKK-Chef an den Galgen schicken zu können. „Ein Mann, der unser Land in Blut getaucht hat“, tönte Bahceli wenige Tage vor der Krisensitzung, „muss hingerichtet werden.“ In dieser Frage dürfe es keine Einschränkungen der türkischen Souveränität geben.

Ministerpräsident Ecevit und Anap-Chef Yilmaz sehen die Interessenlage dagegen genau entgegengesetzt. Die weitere Annäherung an die EU, die ersten Anzeichen eines Friedens im Südosten des Landes und der wirtschaftliche Aufschwung wären gefährdet, würde das Todesurteil vollstreckt.

Sowohl die EU als auch die USA haben im Vorfeld der Entscheidung eindringlich dafür plädiert, die Entscheidung aus Straßburg abzuwarten. „Alles andere“, so der amtierende EU-Ratschef, der portugiesische Europaminister Francisco Seixas de Costa, wäre „ein ganz schlechter Start“ nach der Anerkennung der Türkei als Kandidat für die Aufnahme in die EU vor vier Wochen in Helsinki.

Die türkische Militärführung und der Geheimdienst MIT befürchten, dass eine Vollstreckung des Todesurteils die Kämpfe in den kurdischen Regionen des Landes wieder intensivieren würde.

„Die PKK-Führung“, hatte der Geheimdienst in einem Dossier dargelegt, „wird nach einer Exekution Öcalans ihren Friedenskurs nicht beibehalten können.“ Ein neuer Krieg aber wäre Gift für den Wirtschaftsaufschwung im Land. „Die Türkei braucht Stabilität und die Annäherung an Europa“, wird der wichtigste Industriellenverband Tüsiad nicht müde zu erklären.

Ein lebender Öcalan schade der Türkei nicht, ein Toter dagegen sehr, versuchte Ecevit seinem Koalitionspartner Bahceli deshalb mühsam beizubringen. Doch der musste seinen Anhängern auch etwas vorzeigen können. Deshalb enthielt die Entscheidung eine unmissverständliche Drohung an die PKK: „Sollte die Terrororganisation und ihre Anhänger diese Entscheidung gegen die Interessen der Türkei verwenden, wird der Aufschub enden und die weiteren Schritte zur Hinrichtung werden beginnen“.

Kommentar Seite 12

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