Freispruch für Verleger der Tiedge-Memoiren

Gericht brachte es ans Licht: Unbekannter Internet-Publizist veröffentlichte Memoiren des Überläufers zuerst und raubte Tiedge-Verlegern Oehme und Kühn so die Schuld

Die drei Schlapphüte in Zivil waren angetreten, die angeschlagene Ehre des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zu retten. Doch je mehr sich die Beamten im Zeugenstand wanden, desto breiter strahlte der Angeklagte Matthias Oehme. Kurz darauf wollte nicht mal mehr die Staatsanwaltschaft Oehme und seine Verlegerkollegin Jacqueline Kühne dafür belangen, dass sie Hansjoachim Tiedges „Überläufer“-Memoiren veröffentlicht hatten: Bereits am zweiten Prozesstag sprach das Berliner Landgericht in Moabit beide vom Vorwurf der Beihilfe zum Geheimnisverrat frei. Es folgte damit den Anträgen von Anklägern und Verteidigung.

„Den Angeklagten ist ein Geheimnisverrat nicht nachzuweisen“, argumentierte Staatsanwältin Ingrid Jaeger in einem Plädoyer, das die Verteidiger kaum besser hätten halten können. Denn der Verrat hätte erst in dem Moment bestanden, „wo das erste Buchexemplar im Handel erhältlich“ gewesen wäre, und nicht schon, als Oehme und Tiedge den Vetrag dafür schlossen. Den Ausschlag für den gestrigen Freispruch gab pikanterweise jener Internettext, von dem wohl niemals als Licht kommen wird, wer ihn ins Netz stellte: Wochen, bevor Oehme die in Wien deponierten Bände ausliefern ließ, erfreuten sich die Tiedge-Enthüllungen bereits großer Beliebheit. „Alle konnten das lesen, die Presse berichtete darüber“, so Jaeger. „Zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung war der Text kein Geheimnis mehr.“

„Eigentlich hätte die Staatsanwältin so einen Fall gar nicht aufgenommen“, mutmaßte Strafverteidiger Atalay Gümüsboga am Rande der Verhandlung. „Da war wohl der Druck des Nachrichtendienstes zu groß.“ Der hatte im Sommer 1998 von der bevorstehenden Buchveröffentlichung Wind bekommen, Verrat gewittert und Anzeige erstattet. Am 31. August schlug die Staatsanwaltschaft zu, durchsuchte die Büros des Berliner Nischenverlages „Das Neue Berlin“ und nahm Unterlagen mit. Der Inhalt des gefürchteten Manuskripts, von dem längst Kopien in Agenten- und Journalistenstuben kursierten: reichlich Klarnamen und schlüpfrige Anekdoten aus der Arbeit der Kölner Spione – Stand 1985. Auf 478 Seiten garnierte Tiedge seine Behördenprosa mit Insiderstorys über Kollegen, die viel tranken, fremdgingen und schlampig ermittelten.

Der Autor dieser „Lebensbeichte“ war nicht irgendein Bürokrat, sondern bis zu seiner Flucht nach Ostberlin 1985 Chef der Spionageabwehr. Im Suff pakte er danach immer wieder vor Stasi- und KGB-Agenten aus. Seit August 1990 lebt der heute 62-Jährige, international gesuchte „Frührentner“ in einem Unterschlupf bei Moskau.

Spätestens nach Auftritt der BfV-Zeugen war gestern klar, worum es in dem Verfahren eigentlich ging: Nicht um Geheimnisverrat, sondern um Imageschaden. Der Kooperationswille von Informanten und befreundeten Diensten sei seit Jahren rückläufig, so Verfassungsschützer Rainer Walter. Klar habe Tiedges Buch Ruf und Arbeit des Amtes geschadet. Nachweisen könne man das aber nicht.

„Das Verfahren war ein Eigentor für den Verfassungsschutz“, so Anwalt Gümüsboga. „Ohne Prozess hätte das Buch kaum jemanden interessiert.“ Mittlerweile sind die 10.000 Druckexemplare so gut wie vergriffen. Auf eine weitere Auflage will Oehme verzichten. Bei ihm häufen sich Angebote von weiteren Überläufern und Spionen im Ruhestand. Sein Urteil: „Das Zeug ist noch uninteressanter als die Tiedge-Memoiren.“ Markus Wierz