Die verlorene Ehre des Helmut K.

Der Ehrenhandel in der CDU: Warum riskiert ein anerkannter Politiker wegen ein paar windiger Finanztransaktionen sein gesamtes Ansehen als Parteiführer und gewichtiger Staatsmann? Was sich aus dem Schweigen des Ex-Kanzlers lernen lässt ■ Von Ludgera Vogt

Seine Beziehungen erscheinen ihm so wertvoll, dass er sein Ansehen ohne Zögern über Bord wirft

„Ich habe in meinem ganzen Leben nie meine Ehre aufgegeben, und das tue ich auch heute nicht. Ich kämpfe um meine Ehre. Dazu gehört, dass ich ein gegebenes Wort halte.“ Mit diesen Worten versuchte Helmut Kohl, der sich am vergangenen Mitwoch nach längerem Schweigen wieder zu Wort meldete, sein für viele Beobachter unverständliches Verhalten in der CDU-Spendenaffäre zu rechtfertigen. Der Ehrenkampf, der sich in den letzten Wochen zwischen Ex-Kanzler und Partei entwickelt hat, führt auf dramatische Weise vor, dass die Ehre, die von manchen Historikern und Soziologen vorschnell totgesagt wurde, durchaus noch sehr lebendig ist. Hatte der in die Enge getriebene Ministerpräsident Uwe Barschel seinerzeit die letzte Zuflucht bei einem öffentlichen Ehrenwort gesucht – und dessen Bruch möglicherweise mit dem Leben bezahlt –, so führt Kohl heute wiederum das Ehrenwort gegenüber seinen Spendern an, um ein partei- und demokratiefeindliches Verhalten zu rechtfertigen.

Was können wir nun aus dem aktuellen Ehrenhandel zwischen CDU und Kohl lernen? Die Falle, in die Helmut Kohl zwischen Ehrenvorsitz und Ehrenwort, Parteiloyalität und privatem Verpflichtungsnetzwerk geraten ist, offenbart zunächst einmal interessante Erkenntnisse über die Verfassung des Politischen im „System Kohl“, das immerhin 16 Jahre lang diese Republik geprägt hat. Der Patriarch hat sich im Konflikt eindeutig für die persönlichen Bindungen zu den Spendern und gegen alle rechtlichen Regelungen entschieden. Auch die mit seinem Amt als Ehrenvorsitzender verknüpften Verpflichtungen, die Schäuble und andere Parteivordere immer wieder angemahnt hatten, wurden mit souveräner Geste beiseite gewischt. Was hier zu Tage tritt, ist ein vormoderner, personaler und privatistischer Politikbegriff. „Legitimität durch Verfahren“ (Luhmann) erscheint im Lichte der Oggersheimer Herrschaftsphilosophie als Quantité négligeable, ja sogar als Sand im ansonsten gut geschmierten Beziehungsgetriebe des Kohlschen Territoriums.

Nun gilt es zunächst einmal zu verstehen, warum die CDU Kohl überhaupt zu ihrem Ehrenvorsitzenden ernannte. Pierre Bourdieu zufolge stellen Ehre, Prestige und Ansehen ein „symbolisches Kapital“ dar, mit dem individuelle oder kollektive Akteure im Kampf um Macht und Anerkennung wuchern können. Die Partei wollte also, nachdem der Machtwechsel mit der verlorenen Bundestagswahl 1998 zwingend wurde, gleichwohl am symbolischen Kapital des Staatsmannes Kohl partizipieren, der im In- und Ausland von vielen als Vorzeigeeuropäer und Lenker des deutschen Vereinigungsprozesses bewundert wurde. Für Kohl wiederum stellte der Ehrentitel eine gewisse Kompensation für den Verlust der formellen Macht dar, weil ihm so das Spiel mit den von ihm ohnehin bevorzugten informellen Beziehungsnetzen weiter offen stand.

Diese Symbiose fand mit dem Spendenskandal ein jähes Ende. Der Elder Statesman Kohl entpuppte sich als Rechtsbrecher, und das „System Kohl“ rückte in die Nähe mafioser Geldwaschanlagen. Aus dem symbolischen Kapital wurde Falschgeld, eine Kontamination, die gerade vor dem Hintergrund der von Kohl und seinen Getreuen immer wieder reklamierten Moralität verheerende Folgen für das Ansehen der Partei mit sich bringen musste. Gerät ein Gruppenmitglied, so führte schon Georg Simmel vor hundert Jahren aus, in Unehre, so färbt dieser Ehrverlust auf die gesamte Gruppe ab. Wie viel mehr aber gilt dies für das exponierte Aushängeschild des Ehrenvorsitzenden Kohl! Es verwundert eigentlich, wie lange die Partei gebraucht hat, bis sie den für sie fatalen Mechanismus erkannt und Maßnahmen ergriffen hat, um neben dem finanziellen Bankrott auch den symbolischen abzuwenden. Die große Frage aber bleibt: Warum riskiert ein anerkannter Politiker wegen ein paar windiger Finanztransaktionen sein gesamtes Ansehen als Parteiführer, Exkanzler und gewichtiger Staatsmann im internationalen Kontext? Worin liegt für den unterstellterweise rational handelnden Akteur Helmut Kohl der spezifische Nutzen seines Schweigens über die Spender, denen er sein Ehrenwort gegeben hatte? Offensichtlich kollidieren hier zwei Bezugsgruppen oder, wie Simmel sagt, zwei „Kreise“, die jeweils eigene Gratifikationen bereitstellen, aber auch rigide Anforderungen an das Verhalten und die Lebensführung ihrer Mitglieder formulieren. Der Ehrenvorsitz in der CDU brachte Kohl ohne Zweifel zusätzliches Prestige, auch Einfluss innerhalb der Organisation. Dennoch handelt es sich um ein Amt, das letztlich immer in die formale Organisation und ihre Funktionsweisen eingebunden bleibt. Und die CDU als Bezugsgruppe ist – trotz Kohls legendärem Telefonbuch, in dem nahezu jeder Provinzschriftführer aufgeführt war – eine relativ anonyme Großgruppe, in der zwar Öffentlichkeit hinsichtlich vieler Handlungen herrscht, aber der Verpflichtungscharakter der einzelnen Beziehung als nicht so stark erscheint.

Bei den „noblen“ Spendern – die Angst vor der Öffentlichkeit hat hier vermutlich steuerjuristische Gründe – handelt es sich dagegen um eine kleine Gruppe persönlicher Bekannter oder gar Freunde. In der Face-to-face-Situation entfaltete das persönliche Ehrenwort offenbar eine größere Bindungskraft als die Ehrenpflicht des Ehrenvorsitzenden. Kohl schwieg und ließ seine Partei, der er immerhin auch seine Karriere als Politiker zu verdanken hat, im Regen stehen, während er sich gegenüber seinem persönlichen Beziehungsnetzwerk als unerschütterlicher moralisch integerer Ehrenmann inszenieren konnte. Die Ehre erweist sich hier wieder einmal als Schließungsinstrument für die Gruppe der wirklich mächtigen Eliten, die in Deutschland scheinbar eher aus Wirtschafts- denn aus Politikerkreisen stammen. Kohl vermeidet mit seiner Entscheidung, aus dem für ihn unmittelbar relevanten Netzwerk herauszufallen, und dieses soziale Kapital der guten Beziehungen erscheint ihm so wertvoll, dass er dafür das symbolische Kapital seines Ansehens ohne Zögern über Bord wirft.

Persönliche Beziehungen, so hatte der Ex-Kanzler freimütig in einem Interview geäußert, seien ihm noch stets wichtiger gewesen als formale Kontrollen und Gesetze. Von daher erscheint es nur konsequent, wenn Kohl nun auch in diesem Fall dem persönlichen Ehrenwort höheres Gewicht verleiht als Recht und Gesetz. Hatte ihm denn das jemand früher, als er außenpolitische Erfolge mit seinen Duzfreunden Boris und François erzielte, irgendjemand verübelt? Der Erwerb oder Besitz von Ehre, so hatte Max Weber aufgezeigt, geht in aller Regel mit dem Erwerb oder Besitz von Macht einher. Der Utilitarist Kohl hat sich nun für diejenige Machtquelle entschieden, die ihm privat langfristig als wichtiger erschien: das persönliche Beziehungsnetzwerk. Was auf den ersten Blick als romantischer Anachronismus erscheint, stellt sich bei näherem Hinsehen als machiavellistischer Schachzug heraus. Das Ehrenwort gegenüber den anonymen Spendern signalisiert für alle sichtbar: Ich, Kohl, erfülle die Anforderungen meines Elitenkreises, sogar unter Aufopferung meines symbolischen Kapitals in der Öffentlichkeit. Ein solches Opfer fordert ohne Zweifel adäquate Gegengaben, über die hier freilich nur – mangels genauerem Wissen – spekuliert werden könnte.

Das Kohlsche Ehrenwort, mit dem er den Ehrenvorsitz und damit auch das Ansehen seiner Partei demontierte, ist die Fortsetzung des Systems Kohls mit anderen Mitteln. Es setzt Persönliches über Formales, Privates über Öffentliches, die elitäre Kleingruppe über die Großorganisation. Die Ehre, die Simmel zufolge als ein Bestandteil der Sitte in ihrer normativen Steuerungskraft zwischen individueller Moral und kodifiziertem Recht steht, wird von Kohl über das Recht gesetzt. Schon die antiken Politiklehren unterschieden zwischen Polis und Oikos, zwischen dem politischen Raum der Demokratie und dem privaten Raum der nahezu uneingeschränkten Herrschaft des Hausvaters. Kohl hat offenbar die Bundesrepublik über lange Zeit zum Oikos degradiert, bestenfalls zur Deutschland AG, in der ein patriarchalischer Chef seine Untergebenen steuert, ohne von „formalen Kontrollen“, Öffentlichkeit oder lästigem Parteivolk gestört zu werden. Mit der „Berufsehre“ des Demokraten, wie sie der Politologe Iring Fetscher vor einigen Jahren im Anschluss an Montesquieu, Rousseau und Karl Welcker als moralisierendes Mittel der Selbstbeschränkung politischer Akteure skizzierte, hat die Ehre des Helmut Kohl jedenfalls herzlich wenig zu tun.

Ludgera Vogt ist Autorin des Buches „Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997