Der Kanzler der Einheit als Staatsfeind

■ Dem Ex-Kanzler ist Ehre wichtiger als Gesetzestreue. Bürgertum und „Bild“-Leser applaudieren ihm dafür. Scheinbar ist die Demokratie in Deutschland doch weit schwächer verankert als gedacht

Mit Helmut Kohls immer selbstbewusster vorgetragener Haltung, die ihm bekannten Spender nicht zu nennen und damit seine Ehre zu retten, hat sich der Kanzler der Einheit zum Staatsfeind entwickelt. Diese Bezeichnung ist kein Ausdruck moralischer Empörung, sondern Resultat einer nüchternen Analyse seines gegenwärtigen Handelns. In diesem Handeln verdient der Ex-Kanzler ernst genommen zu werden. Erklärungen, es handele sich nun einmal um einen Machtmenschen oder Patriarchen, verfehlen die tiefgreifende politische Dimension des Vorgangs. Die gleiche Unterschätzung, die den Politiker zu Beginn seiner Laufbahn begleitete, verdeckt jetzt den Blick auf die wahre Natur der gegenwärtigen Vorgänge.

Helmut Kohl, so der CDU-Rechtspolitiker Horst Eylmann, habe sich durch die Verstöße gegen seinen Amtseid des unausgesetzten Verfassungsbruchs schuldig gemacht. Nun gehören Korruption und Bereicherung ebenso zu politischen Systemen wie der Diebstahl zu Gesellschaften, die auf dem Eigentum beruhen. Für eine politische Bewertung illegalen Handelns sind jedoch die Motive entscheidend. Kohl hat dieses Geld nicht dazu benutzt, sich persönlich zu bereichern, und auch die Annahme, er habe es lediglich dazu gebraucht, seine persönliche Macht zu sichern, greift zu kurz. Kohls Aussage im Fernsehen, man habe in Thüringen angesichts der Stärke der PDS „mit dem Rücken zur Wand“ gestanden und deshalb den Sozialauschüssen Mittel zukommen lassen müssen, weist die Richtung.

Helmut Kohl, mitsamt seinem europäischen und deutschlandpolitischen Engagement ist durch und durch ein Kind des Kalten Krieges und des kalten Bürgerkriegs der Weimarer Republik, zu deren Endzeit er geboren wurde. Sprüche wie jener, dass, wer die „Sozen“ bekämpfen wolle, früh aufstehen müsse, begleiten seine politische Karriere und verweisen auf die Lagerbildung der unglücklichen Zwischenkriegsrepublik, zu der sich das deutsche Bürgertum innerlich nie bekennen wollte. Auch die katholische Zentrumspartei, aus deren Milieu Kohl kommt, akzeptierte diese Republik trotz Regierungsbeteiligung nur mit Vorbehalt.

Keinem vernünftigen Zweifel kann die Einsicht unterliegen, dass die letztlich von Konrad Adenauer und der CDU gegründete Bundesrepublik ein – wenn auch notwendiges – Kind des Kalten Krieges sowie des Weltbürgerkrieges des 20. Jahrhunderts war. Im Bürgerkrieg aber gibt es zwischen den Parteien weder echte Kompromisse noch ein gemeinsames Ethos, sondern nur Sieg, Niederlage oder Waffenstillstand auf Zeit. Dieser Logik folgte der 1916 geborene hessische CDU-Schatzmeister Prinz Wittgenstein, der das Ende der Weimarer Republik als Angehöriger eines rechtsliberalen, später als jüdisch stigmatisierten Hauses erlebte, sowie der ehemalige Innen- und Verfassungsminister Kanther, der das Grundgesetz nicht als Selbstzweck, sondern als Instrument zum Behaupten einer nationalen Wertordnung verstand. Dieser Wertordnung entnimmt Helmut Kohl, was er für seine Ehre hält und ihn zum Staatsfeind werden ließ.

Er ist ein Staatsfeind im genauen Sinn des Wortes, weil er seine persönlichen, aus den Bedingungen des Weltbürgerkrieges entstandenen Wertentscheidungen für gewichtiger hält als das Ethos eines demokratisch gewählten Kanzlers. Als ob das Wort einigen politischen Freunden gegenüber mehr zähle als der Amtseid, als das Ehrenwort gegenüber einem achtzig Millionen Menschen zählenden demokratischen Souverän. Indem Kohl seine illegalen Praktiken voller Stolz über die Legalität des demokratischen Rechtsstaates stellt, bemüht er eine weitere, im Grundgesetz nicht vorgesehene, private Legitimitätsquelle. Indem er als ehemaliger Amtsinhaber selbstbewusst zu seinem illegalen Handeln steht, unterhöhlt er das rechtsstaatliche und demokratische Legitimitätsbewusstsein der Nation. Werthaft begründete Gesinnung gilt ihm mehr als der Gehorsam gegenüber demokratisch legitimiertem Recht.

In dieser Einstellung – nicht in den Taten! – trifft sich der Ex-Kanzler mit radikalen Tierschützern, anarchistischen Totalverweigerern und dem linken Terrorismus der Siebzigerjahre, der auf Basis eigener, irregeleiteter Wertüberzeugungen zu den Waffen griff. Dass es sich dabei nicht nur um Kohls Privatmeinung, sondern um eine offenbar weitverbreitete Haltung innerhalb des deutschen Bürgertums handelt, zeigt der frenetische Jubel, den ihm hanseatische Patrizier vor wenigen Tagen genau dieses „Ehrenworts“ wegen bescherten. Auch die Masse der Bevölkerung, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft, stimmen dieser Haltung stärker zu als vermeint. Was bewog Bild-Leserinnen und Leser dazu, auf die Frage, wer Deutschland aus der Krise führen könne, an zweiter Stelle – nach Christoph Wulff – ausgerechnet Helmut Kohl zu nennen? Die hamburgischen Kaufleute so gut wie die Bild-Leser beweisen für Westdeutschland, dass der Geist der parlamentarischen Demokratie hier doch schwächer verankert ist als erhofft. Dass in Ostdeutschland unterdessen PDS, CDU und SPD bei den Wählern gleichauf liegen, sollte dann niemand verwundern.

Die gegenwärtigen Ereignisse haben die Grenzen einer Parteienkrise längst überschritten und sich zu einer Krise von Staat und Gesellschaft ausgeweitet. So vorbildlich die Medien ihrer Aufgabe nachkommen, so sehr versagen andere Instanzen. So muss der zur Bewältigung derartiger Lagen eigentlich vorgesehene Bundespräsident schweigen, da er selbst mit Vorwürfen ungleich läppischerer Art zu kämpfen hat. Auch hat sich die vielbeschworene „Zivilgesellschaft“ noch nicht gemeldet. Parteiübergreifende Demonstrationen für den Geist des demokratischen Gemeinwesens wurden jedenfalls bisher nicht gesichtet. Damit verbleiben fürs erste Justiz und Parlamente. Ihnen obliegt eine ungeahnte Verantwortung.

Krisen tragen einen Januskopf. In dem Ausmaß, in dem sie erschüttern, ermöglichen sie Ablösung und Erneuerung. Im besten Fall handelt es sich, sofern die Sache gut ausgeht, um eine Wachstumskrise des deutschen Parlamentarismus, mehr – um seine bisher schwerste Bewährungsprobe. Helmut Kohl hat die im Kalten Krieg gegründete Bundesrepublik mit der ihm zugefallenen Einigung Deutschlands und der zielstrebig betriebenen Einführung des Euro vollendet. Dem Denken und Fühlen des Kalten Krieges unauflöslich verhaftet, bleibt ihm die neue Welt einer nicht mehr agonalen Gesellschaft fremd. So mündet – um ein mythisches Bild zu bemühen – der vor aller Augen ablaufende Todeskampf der alten Bonner in die Geburtswehen der neuen Berliner Republik. Inter faeces et urinam nascimur: Unter Fäkalien und Urin, so die Übersetzung des lateinischen Sprichworts, werden wir geboren. Micha Brumlik