piwik no script img

„Vergessene“ Opfer

Ein Band widmet sich der Homosexuellen-Verfolgung im Nationalsozialismus  ■ Von Jakob Michelsen

Im Sommer 1932 beobachtete ein Polizist im Hamburger Sternschanzenpark heimlich zwei Männer, als sie ins Gebüsch gingen und nahm sie fest. Einer der beiden, der Reisevertreter Heinrich Erich Starke, bemerkte vor Gericht, er habe im Park keinen Sex gesucht, sondern „Polizeibeamte, die Homosexuelle in ihrer Liebe zu stören pflegten, beobachten“ wollen. Geschickt verband er so seine Verteidigung mit einer deutlichen Aussage, was er von den amtlichen Spannern hielt.

Diese Episode schildert der His-toriker Stefan Micheler in einem Sammelband, den die KZ-Gedenkstätte Neuengamme dem noch immer unterbelichteten Thema „Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus“ gewidmet hat. Sie spiegelt die ambivalente Lage gleichgeschlechtlich orientierter Männer und Frauen am Ende der Weimarer Republik: einerseits nach wie vor Diskriminierung und – für Männer – strafrechtliche Verfolgung, andererseits, zumindest in Großstädten, eine relative Offenheit und gewachsenes Selbstbewusstsein. Das NS-Regime bereitete dem ein brutales Ende. Die Verurteilungszahlen gingen, besonders nach der Verschärfung desParagrafen 175 im Jahre 1935, drastisch in die Höhe. Tausende wurden in KZs überführt, ein großer Teil von ihnen überlebte das „Tausendjährige Reich“ nicht.

Gegenstand der meisten Aufsätze im vorliegenden Band ist die Lage von Lesben und Schwulen in Konzentrationslagern und Strafvollzugseinrichtungen. Alle AutorInnen stehen vor dem Dilemma, dass Selbstzeugnisse homosexueller Häftlinge äußerst rar sind, da gesellschaftliche Ächtung und staatliche Repression nach 1945 noch lange fortdauerten. Die ForscherInnen sind damit weitgehend auf Verfolgerakten und auf Berichte nicht-homosexueller Häftlinge angewiesen. Den AutorInnen gelingt es dennoch, den bekannten Grundstock an Fakten in erfreulichem Maße zu erweitern und zu modifizieren. Der Forschungsstand über die einzelnen Lager ist sehr unterschiedlich; so kann über das KZ Neuengamme nur ein Werkstattbericht vorgelegt werden, aber ein von Ulf Bollmann vorgestelltes Projekt lässt in nächster Zeit auf mehr hoffen.

In Stefan Michelers bereits zitierter Rekonstruktion der Biografie Heinrich Erich Starkes werden viele Aspekte der Lebenswirklichkeit homosexueller Männer unter den Bedingungen des NS-Terrors sichtbar – darunter die erschreckend hohe Bereitschaft beflissener „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ zur Denunziation. Eine solche wurde auch Starke zum Verhängnis; er starb 1942 im KZ Neuengamme. Die Studie, die auf den Hamburger Strafjustizakten beruht, macht noch einmal deutlich, welchen Skandal die Vernichtung eines großen Teils dieses Quellenbestandes durch das Hamburger Staatsarchiv zwischen 1986 und 1996 darstellt. Archivdirektor Hans-Dieter Loose und sein zuständiger Abteilungsleiter, Hans Wilhelm Eckardt, haben damit der Forschung unabschätzbaren Schaden zugefügt.

Nur wenige Ungereimtheiten sind zu beanstanden. So zieht Carola von Bülow in ihrem Aufsatz über die Emslandlager aus den Häftlingskarteien statistische Schlüsse über die Gesamtheit der vom Polizei- und Justizapparat verfolgten männlichen Homosexuellen. Die Emslandhäftlinge sind jedoch aufgrund der Einweisungskriterien nicht in jeder Hinsicht als repräsentativ anzusehen. Ein flaues Fazit des Forschungsstandes zieht Rüdiger Lautmann: So richtig seine Feststellung ist, dass Arbeiten über die nationalsozialistische Schwulen- und Lesbenverfolgung im Gegensatz zur Forschung über politisch und „rassisch“ Verfolgte noch immer am Rande des anerkannten Themenspektrums angesiedelt sind – mit seiner nackten Forderung nach akademischer Etablierung und mehr Geldern gerät er in die Gefahr der Opferkonkurrenz. Neue Methoden erklärt er hingegen ausdrücklich für überflüssig. Dabei sind viele Fragen noch kaum oder gar nicht gestellt worden; genannt sei nur die nach den damaligen gleichgeschlechtlichen Identitätskonzepten, die mit den heutigen Begriffen „lesbisch“ und „schwul“ nicht einfach gleichzusetzen sind.

KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus, Edition Temmen, Bremen 1999, 205 Seiten, 19,90 Mark.

Buchpräsentation: heute, 19.30 Uhr, Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstraße

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen