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Das Kohlgate-Lächeln

Die täglichen CDU-Enthüllungen sind längst zur Daily-Soap-Opera verkommen. Das notwendige Projekt der politischen Aufklärung bleibt beim Entrüstungskarussell auf der Strecke. Denn das „System Kohl“ wird nicht abgebaut, sondern perfektioniert ■ Von Georg Seeßlen

Das eigentliche Problem des allgegenwärtigen Systems Kohl ist der Grad unserer eigenen Vergiftung

Das wahrste Wort in der großen „Spendenaffäre“ wurde ganz am Anfang geprägt. Wie ein semiotischer Automatismus kam es über uns: „Das System Kohl“. Von da an wurde nur noch gelogen. Genauer gesagt: Die Protagonisten des Stücks „Spendenskandal“ versuchten alles, dieses System unsichtbar zu machen. Aber auch der Medien-Mainstream, auf jede neue „Enthüllung“ begierig, selber beseelt davon, hinter der Wortmauer „rückhaltlose Aufklärung“ rückhaltlose Aufklärung zu erlangen, wollte von dem System schon bald nichts mehr wissen.

Das System verschwindet in der Dramaturgie des Skandals, die Aufklärung kommt scheibenweise, wie die Folgen einer Daily-Soap-Opera zu uns, und es müssen wohl noch eine Menge Skandale hinter den Skandalen aufgedeckt werden, ein paar Akten verschwinden, ein paar Selbstmorde geschehen, bis wir satt sind. Wo jede Enthüllung nur wieder den Blick auf den nächsten Schleier freigeben kann, fasziniert uns der Enthüllungsvorgang, und zugleich schütteln wir uns vor Ekel: Weil wir enttäuscht, moralisch empört oder wenigstens nicht einmal mehr satirisch amused wären, behaupten wir. In Wahrheit aber ekelt uns in diesem endlosen Enthüllungsdrama, weil wir ahnen, was zu sehen ist, wenn der letzte Schleier vor dem „Spendenskandal“ entfernt wurde: nichts. Eine leere Bühne.

Das Projekt der politischen Aufklärung hatte in dem Augenblick verloren, als man sich auf das Spiel der Verschleierungen und Enthüllungen einließ und sich voller Entrüstung auf die vielen eigenen Schurkenstücke und Melodramen stürzte, die das System gleichsam im Nebenher produzierte.

Ein System funktioniert als ein zum Teil durch äußere Eingriffe initiiertes, vor allem aber sich selbst regulierendes Ineinander von Teilen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie voneinander abhängen und einander bedingen. Die Teile eines Systems müssen nicht miteinander direkt verbunden sein, um am Spiel der Abhängigkeiten beteiligt zu sein. Es gibt leere Systeme, autarke Systeme, produzierende Systeme, (sich) reproduzierende Systeme und schließlich System-produzierende Systeme. Ein System hat die Eigenschaft, alles und jeden, der es berührt, entweder heftig abzustoßen oder sich einzuverleiben, so wie jemand, der das Radio andreht, automatisch zum Teil des Rundfunksystems wird. Wer jemals einem Mafioso oder einem Fernsehreporter begegnet, kann so tun, als erkenne er die Gefahr nicht, die von dem wuchernden System ausgeht, er oder sie ist dennoch bereits rettungslos verloren. Nennen wir solche Systeme „giftige“ Systeme, bei denen bloße Berührung genügt, um Biografie und Moral entscheidend aus der Bahn zu werfen.

Jede Gesellschaft (ein System-produzierendes System) ist durchzogen von kleinen und großen giftigen Systemen. Moralisches und physisches Überleben im Mainstream hängt in der Regel damit zusammen, sie entweder einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen (bereits die Existenz der Mafia zu bejahen, ist höchst gefährlich) oder sie zu mythisieren, zu fiktionalisieren und zu verallgemeinern: Ist ja sowieso alles Mafia. In der fiktionalisierten Form kennen wir das System Kohl längst aus jedem „Tatort“-Krimi, wo „Waffenhändler“, „verschwundene Akten“, „schmutziges Geld“ in „Aktentaschen“ und nicht zuletzt „Ehrenworte“ gängige Chiffren sind. „Tatort“-Krimis halten wir für „realistisch“. Und wir kennen das System Kohl aus der Verallgemeinerung: Die sind doch eh alle korrupt! Die da oben machen doch, was sie wollen. (Und was werden sie schon wollen? Ungefähr das, was wir auch wollen täten, wenn wir uns trauen dürften.)

Nun aber sind wir trotzdem „enttäuscht“. Wir verhalten uns also zu unserem eigenen Wissen durchaus schizophren. Würden wir unseren eigenen Fiktionalisierungen und Verallgemeinerungen glauben, dürften wir von den Enthüllungen im „Parteispendenskandal“ nicht eigentlich überrascht sein (und schon gar nicht, nachdem die ganze Sache ja eine hartnäckige Wiederholungstat ist). Nein, der eigentliche Skandal ist es, dass uns auf eine so grobe Weise die Existenz des vergifteten Systems demonstriert wird, dass das eigentliche Problem der Grad unserer eigenen Vergiftung ist.

Wie jedes giftige System hat auch das System Kohl so etwas wie ein moralisches Innenleben, eine Idee, die der pragmatischen Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit, Gewalt und Schweigegebot übergeordnet ist. Das System wird sich auch selbst zur Idee, sodass es nur auf den ersten Blick absurd erscheint, dass gerade in der Mafia das Wort „Ehre“ so bedeutsam ist. Die gleichfalls nur auf den ersten Blick absurde Idee des Systems Kohl ist es, selbst das Metasystem nicht bloß zu unterwandern (die Partei, die Demokratie, den Staat, sogar das System Geld, das vom System Bimbes gefressen wird), sondern sich an seine Stelle zu setzen. In dankenswerter Offenheit erklärt Helmut Kohl, dass er sein giftiges System der Machterhaltung in den Dienst nur des größten und ganzesten zu setzen gewillt war: Das System Kohl war die Partei (und ich wette: es ist es immer noch), die Partei wollte der Staat sein, und dieser Staat produzierte wiederum nur „historische Verdienste“ von Helmut Kohl. Kurzum: Das System Kohl wollte von vorneherein Geschichte werden, wenngleich auch Kohl-Geschichte.

Da wir uns medial darauf geeinigt haben, einem Enthüllungsdrama zu folgen, statt ein System zu verstehen (und notfalls so radikal zu zerschlagen, wie man ein System nur zerschlagen kann), ist die Frage, ob sich das System Kohl gerade abbaut (unter dem Druck äußerer Verhältnisse kann ein System so lange wieder in seine Subsysteme zerfallen, bis es in seiner ursprünglichen Form unkenntlich ist) oder nur umbaut (es trennt sich genau von den fehlerhaften Teilen, um sie durch perfektere Beziehung zu ersetzen, generiert dabei aber zugleich ein „Drama“ des Umbaus, indem es sich eine neue Form gibt).

Das System Kohl hat die Meta-systeme Partei, Gesellschaft und Staat offenkundig bereits so vergiftet, dass es nicht mehr zu zerstören ist. Wenn es das System Kohl nicht mehr gibt, gibt es zwischen dem demokratischen Staat und der Wirtschaft überhaupt nichts mehr. So könnten wir im Übrigen die Politik der Schröder-Regierung beschreiben: als mehr oder weniger organisierte Systemsprünge und -angleichungen. Das System Kohl etablierte eine teils politische, teils kriminelle Klasse zwischen den Systemen Staat und Wirtschaft; die Schröders versuchen heute, die beiden direkt zu fusionieren.

Die Aufklärung des Systems Kohl ist also aus drei Gründen schwierig, wenn nicht unmöglich:

Niemand weiß, wie weit es reicht, niemand vermag zu sagen, wo die Mitschuld beginnt, niemand kann bestimmen, wie viel der Mainstream gewusst, ja wie viel er, klammheimlich oder vergiftet, davon gewollt hat. Das System Kohl wird tückischerweise in jedem einzelnen seiner Wähler und Wählerinnen, in jeder Spur, die er durch die populäre Kultur gezogen hat, neu zu verhandeln sein. Nur sehr wenige Menschen, die sich der Regierung Kohls verbanden, dürften an demokratische, menschliche, rechtliche Makellosigkeit geglaubt haben. Kohl war der Name eines historisch-moralischen Projektes, in dem die bedrohte Klasse des Kleinbürgertums mit allen Mitteln daran arbeitete, in den wirtschaftlichen Umbauten des Neoliberalismus nicht den Anschluss zu verpassen. Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Die Empörung über das System Kohl enthält einen unheimlichen Anteil an Heuchelei.

Das System Kohl entlarvt noch während seiner öffentlichen Verhandlung die Institutionen des demokratischen Staates als Farce und wählt als eigentliche Sprache des Konflikts (unter anderem Vatermord, Bruderzwist, Judaskuss, Kreuzigung – das ganze Repertoire eben) die der Medien. Eine Zeitungsnachricht ist das, was früher ein Dolch war.

Das System Kohl betreibt nun seinerseits das System der Fiktionalisierung und Verallgemeinerung. Das Böse ist nur Ausdruck der bösen Welt.

Wenn man es genau betrachtet, war das System Kohl, das sich eben nicht mit so etwas Gewöhnlichem wie der „persönlichen Bereicherung“ zufrieden geben wollte, eine Form des schleichenden Staatsstreiches. Dass es nicht ungefähr tausendjährig werden konnte oder wollte, hängt vermutlich vor allem damit zusammen, dass es im System Kohl noch einen so heftigen Widerspruch zwischen „System“ und „Kohl“ gab. König Kohl-Ubu überließ die Macht lieber einem Haufen dummer Straßenjungs als seinen legitimen Nachfolger-Söhnen. Und er überließ sie lieber jenen, die er für zu dumm hielt, das System überhaupt zu verstehen, als denen, die es früher oder später entweihen, ent-kohlen würden. Jedenfalls haben wir Helmut Kohl nie so glücklich gesehen als am Tag seiner angeblichen Wahlniederlage. Das System Kohl ist nichts anderes als die Geschichte der bürgerlichen Konstruktion von Macht.

Warum aber begnügte sich dieses System nicht allein mit der Ausnutzung jeder Opportunität, sondern produzierte zugleich einen mysteriösen ideologischen Nebel, der schließlich in etwas seinen letzten Ausdruck fand, das auch dem abgebrühtesten Kritiker die Sprache verschlägt: Warum musste der alt-adelige Finanz-Consiglière das unrechte Geld ausgerechnet noch jüdischen Emigranten in die Schuhe schieben? Was die Umbauer des Systems Kohl als „Entgleisung“ tarnen wollen, ist in Wahrheit der faschistische Kern des schleichenden Staatsstreichs:

Die eigene verbrecherische Tat wird nicht nur den Juden angelastet, sie begehen die Tat sogar als Sühneopfer, vermutlich aus schlechtem Gewissen darüber, dass sie Deutschland verlassen haben. Sie sollen verantwortlich sein, dass man sich an anrüchigen Orten wie Liechtenstein herumtreibt, sie sind zum zynischen Gespenst der eigenen Gier fantasiert. Nicht die endlosen Ketten der Verschiebungen von Geld und Abhängigkeit und die Offenkundigkeit der Lügen, sondern diese „Entgleisung“ ist es, die uns klarmachen sollte, dass das System Kohl etwas anderes ist als bloß die nächste Korruptionsaffäre, wenn auch in erheiternder Dreistigkeit. Die Fragen nach Einsicht und Schuld gehen tiefer, als uns lieb sein mag. Was die CDU-Politiker derzeit in den Medien abliefern, ist ein weiteres Schmierenstück über eine deutsche Unfähigkeit, Schuld zu sehen, wenn es um ein System geht. So schreiben auch wir unsere Geschichte zurück:

Die persönliche Schuld verschiebt sich ins System, und das System verschiebt sich ins Dunkle, und aus dem Dunkel tritt das Grinsen der Cheshire-Katze. Nicht nur Alice im Wunderland erfuhr, dass es auch ein Grinsen ohne Gesicht gibt.

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