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Die Konferenz der zahnlosen Tiere

Der Europarat wird heute wohl keine Sanktionen gegen Russland beschließen. Die Kriegsnation bleibt im Rat – und unterläuft so dessen hehre Prinzipien ■ Von Barbara Oertel

Der Präsident des Europarates sah noch letzte Woche „keinen Grund, Russland für die Art der Kriegsführung zu bestrafen“

Wenn heute die parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg debattiert, ist der Anlass kein erfreulicher: Auf der Tagesordnung der 286 Mitglieder steht der Krieg in Tschetschenien und mögliche Konsequenzen für Russlands Status in der Staatenorganisation.

Zumindest für die Christdemokraten schien das Maß ob des monatelangen Schlachtens im Kaukasus voll. Die Fraktion kündigte einen Antrag zum Ausschluss Russlands aus dem Europarat an. Dabei blieb es. Gestern wurde der Antrag zurückgezogen. Ohnehin wären seine Erfolgsaussichten eher zweifelhaft gewesen. Nicht nur wegen der Tatsache, dass diese schärfste Sanktionsmöglichkeit des Europarates bislang noch nie zum Einsatz gekommen ist.

Noch in der vergangenen Woche sah der Liberale Lord Russell-Johnston, Präsident des Europarates und Leiter einer Delegation in Tschetschenien, „keinen Anlass, Russland wegen der Art seiner Kriegsführung zu bestrafen.“ Gleichzeitig mochte Russell-Johnston auch an eine Änderung der Moskauer Marschrichtung nicht so recht glauben. Vielmehr glaube er, „dass Interimspräsident Putin die Absicht hat, seinen Job in Tschetschenien fertig zu machen und dies verbietet ihm jede Verhandlung und jeden Kompromiss“. Kapitulation vor den Realitäten oder Einsicht in die beschränkten Möglichkeiten eigener Einflussnahme? Wohl beides.

Dabei war es gerade der erste russische Feldzug in Tschetschenien, der 1995 dazu führte, die Verhandlungen mit Moskau über eine Mitgliedschaft im Europarat zunächst auf Eis zu legen. Ein Jahr später sahen das die Beteiligten etwas anders. Trotz Bedenken erhielt Moskau Anfang 1996 die Eintrittskarte – und das Monate bevor die Bemühungen des Ex-Generals und damaligen Chefs des Sicherheitsrates, Alexander Lebed, einer Verhandlungslösung in Tschetschenien den Weg ebneten.

Das zentrale Argument der Befürworter einer Aufnahme Russlands formulierte seinerzeit die damalige Präsidentin der parlamentarischen Versammlung, Leni Fischer. Man könne auf eine Entwicklung Russlands in Richtung Demokratie und Rechtstaatlichkeit nur einwirken, wenn das Land Mitglied des Europarates sei, sagte Fischer. Gleichzeitig wollte sie sich für die Zukunft jedoch die Möglichkeit, für einen Ausschluss zu plädieren, nicht nehmen lassen, „wenn dies geboten sein sollte“.

Mittlerweile fragt sich so mancher, wann dieser Zeitpunkt im Falle Russlands wohl erreicht ist. Ständige Verurteilungen Moskaus wegen Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gehören in Straßburg schon fast zum Tagesgeschäft. Noch 1996, als sich Russland bereits zur Abschaffung der Todesstrafe verpflichtet hatte, traten die Scharfrichter 103 Mal in Aktion. Mittlerweile gilt zumindest ein Moratorium, aus dem Gesetz gestrichen ist die Höchststrafe aber noch nicht. Das sei der Mehrheit der Bevölkerung nicht vermittelbar, heißt die Moskauer Linie.

Dass Hoffnungen auf eine zügige Demokratisierung in Russland verfrüht waren und weitere Rückschläge folgen werden, ist eine Sache. Die andere betrifft den Europarat und offenbart dessen grundsätzliches Dilemma: Wie lange kann eine eher symbolisch agierende Institution, will sie sich selbst noch ernst nehmen, zulassen, dass ihre tragenden Grundprinzipien verletzt werden? Und werden auch in Straßburg wieder einmal politische Erwägungen und Interessen Grund- und Menschenrechten übergeordnet? Der Verdacht liegt nahe. Immerhin fiel die Aufnahme Russlands in den Europarat ins Jahr der russischen Präsidentenwahlen, wobei die Unterstützung des „Demokraten“ Boris Jelzin im Westen Konsens war. Auch jetzt stehen in Moskau wieder Wahlen für das höchste Staatsamt bevor, mit einem Prätendenten Wladimir Putin, dessen politische Konturen sich für den Westen noch nicht klar genug abzeichnen. Da heißt die Devise: Zurückhaltung und Abwarten. Mit dieser Haltung läuft der Europarat nicht Gefahr, das europäische Konzert durch Dissonanzen zu stören. Auch die Europäische Union hat sich bis jetzt in vornehmer Zurückhaltung geübt, wenngleich sich die EU-Außenminister am vergangenen Montag in Brüssel dazu durchringen konnten, 180 Millionen Mark für Hilfsprojekte aus dem Tacis-Programm zu Ungunsten Russlands umzuschichten.

So wird es heute in Straßburg bei einer scharfen Kritik an die Adresse Moskaus bleiben. Vielleicht wählt man auch den Weg der goldenen Mitte. Die Sozialisten schlagen vor, das Stimmrecht der russischen Delegation auszusetzen „bis substanzielle Fortschritte in Tschetschenien erreicht sind.“

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