: „Ich gebe zu, dass ich ratlos bin“
■ Aus dem Innenleben einer Partei, der alles zuzutrauen ist. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Norbert Blüm über Liebedienerei, sein gestörtes Verhältnis zu Helmut Kohl und die Spätfolgen der Politik: „Seine eigenen Deformationen kennt man ja nicht“
taz: Helmut Kohl hat sich beschwert: Die Leute, die früher nicht nah genug an ihm dran sein konnten, sagen heute nicht einmal mehr guten Tag. Gehören Sie auch zu denen?
Norbert Blüm: Nein. Wenn ich Helmut Kohl heute träfe, würde ich ihn wie früher begrüßen.
Wie denn? Hallo, Helmut, wie geht’s?
Ach, ich habe da keine antrainierten Redewendungen.
Und was würden Sie ihm sagen?
Dass er die Namen der anonymen Spender nennen muss. Daran führt kein Weg vorbei.
Vielleicht würde Kohl gar nicht mit Ihnen reden. Sie haben öffentlich mit ihm gebrochen.
Man darf Freundschaft nicht mit Liebedienerei verwechseln. Zur Freundschaft gehört auch, unbequeme Ratschläge zu geben. Mein Ratschlag an Helmut Kohl lautet, ach was, das ist schon ein Rettungsruf: Er darf die CDU nicht allen möglichen Verdächtigungen aussetzen. Jeder kann uns alles vorwerfen, Sie auch. Ich und alle anderen in der Partei sind wehrlos. Helmut Kohl muss die Wahrheit sagen.
Glauben Sie, dass Kohl auf Sie hört?
Das müssen Sie ihn schon selber fragen.
Sie galten fast zwanzig Jahre als unzertrennliches Paar.
Aber auch bei „unzertrennlichen“ Paaren kann es Krach geben.
Kohl ist nach wie vor Ihr Freund?
Ich wechsle meine Gefühle nicht wie mein Hemd. Ich war sein Freund, ja. Ob ich es noch bin, hängt nicht von mir allein ab. Zu einer Freundschaft gehören immer zwei. Aber ich wäre heilfroh, wenn meine Beziehung zu Helmut Kohl morgen wieder so sein könnte, wie sie immer war. Vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit.
Fühlen Sie sich angesichts der jetzigen Enthüllungen von Kohl im Stich gelassen?
Sie führen hier ein Gespräch, als würde ich auf der Couch liegen und als seien Sie die Erben von Sigmund Freud. Ich kann Ihnen mit meinem Innenleben wenig dienen. Es geht schon längst nicht mehr um Kohl und Blüm oder Schäuble. Es geht um die CDU, um ihr Verständnis von Demokratie und Moral. Wie soll ich denn noch durchs Land reisen, den Sozialstaat verteidigen und von den Leuten Solidarität und Pflichtbewusstsein verlangen? Da bleibt mir doch das Wort im Hals stecken.
Kohl behauptet, er kämpft um seine Ehre. Das soll eine Drohung sein: Er kämpft ohne Rücksicht auf Verluste nur noch für sich selbst. Warum tut Kohl das?
Wenn das zutrifft, dann wäre das nicht der Helmut Kohl, den ich gekannt habe. Er darf nicht sein Lebenswerk zerstören.
Aber genau das tut Kohl.
Das, was Helmut Kohl geleistet hat, bleibt. Das kann keiner ausradieren, nicht einmal er selbst. So selbstzerstörerisch kann er nicht sein. Deswegen habe ich auch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Kohl noch die Kurve kriegt. Ich hoffe verzweifelt, dass er selbst und nicht jemand anderes die Spender nennt. Es kommt sowieso alles raus, und das ist gut so. „Die Wahrheit wird euch freimachen“, heißt eine biblische Einsicht.
Manche behaupten, Kohl rede deswegen nicht, weil dann alles nur noch schlimmer wird.
Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Es gibt nur noch eine Rettung: die Wahrheit.
Aber vielleicht gibt’s die Spender gar nicht.
Ich glaube daran, dass es sie gibt.
Warum glauben Sie das?
Weil ich es glauben will.
Sie haben auch daran geglaubt, dass so etwas wie in Hessen nicht möglich wäre.
Leider.
Haben Sie Mitleid mit Kohl?
Ja, schon. Aber das bringt ihm gar nichts. Es ist auch nicht hilfreich, Kohl den Beifallsstürmen der Parteibasis auszusetzen. Wenn Beifall der Verdrängung dient, ist das kein Freundschaftsdienst.
Dem Beifall setzt Kohl sich selbst aus.
Wenn einer in Bedrängnis ist, muss man ihm helfen, dass er keinen Realitätsverlust erleidet. Man kann doch ein Ehrenwort nicht über das Recht stellen!
Sie sind das erste Mal in Ihrem Leben depressiv, haben Sie behauptet.
Depressiv wäre zuviel gesagt. Aber ich gebe zu, dass ich ratlos bin. Ich leiste mir Gefühle, und die sind nicht die schönsten.
Fragen Sie sich, wofür Sie 30 Jahre gearbeitet haben, warum Sie in die CDU eingetreten sind?
Für mich ist die Parteimitgliedschaft kein Glaubensbekenntnis oder eine Ehe. So überhöht sehe ich das nicht. Aber die CDU ist ein Stück meines Lebens. Politik ist für mich mehr als ein Hobby. Ich habe mich gequält. Ich habe fast rund um die Uhr in der Maloche gestanden und auf vieles verzichtet. Ich fühle mich wie jemand, der in einem Haus wohnt, unter dem ein Erdbebenzentrum liegt.
Warum schmeißen Sie nicht einfach alles hin? Dann haben Sie’s hinter sich.
Ich bin ein alter Pfadfinder. Standhalten, nicht flüchten! Es wird auch in der Nacht marschiert.
Sie wollen also stellvertretender CDU-Vorsitzender bleiben?
Das werden die Delegierten des Parteitags im April entscheiden.
Treten Sie noch einmal an?
Wissen Sie, ich habe nie in meinem Leben Karriereplanung betrieben, das werde ich nicht ausgerechnet im Alter nachholen. Ich glaube auch nicht, dass man die gegenwärtige Diskussion mit dieser Frage belasten sollte. Ich will mir nicht nachsagen lassen, ich hätte nur meinen Posten im Kopf.
Denken Sie in diesen Tagen manchmal daran, welchen Gefahren und Deformationen der Beruf des Politikers mit sich bringt?
Ja. Aber darüber habe ich auch in anderen Zeiten nachgedacht.
Politik verdirbt nicht gleich den Charakter, aber Politiker laufen ständig Gefahr, in ihrem Beruf zu verkümmern, kein „normales“ Leben zu führen oder seelisch zu verkrüppeln.
Seine eigenen Deformationen kennt man ja nicht. Aber vor einer habe ich mich, so hoffe ich doch, gut geschützt: sich von der Politik auffressen zu lassen. Ich habe immer versucht, auch in anderen Welten zu Hause zu sein. Fachidioten sind mir ein Graus.
Viele Politiker aber gehen an ihrer politischen Sucht zugrunde. Sie sind unfähig, sich aus der Politik zurückzuziehen. Wie Kohl.
Das rechtzeitige Loslassen ist eine Kunst.
Braucht unsere Gesellschaft Vorkehrungen dagegen? Sollen politische Ämter zeitlich begrenzt werden?
Bei dieser Frage bin ich befangen, weil ich als Minister länger im Amt war, als alle von Ihnen gedachten Zeitbegrenzungen vorsehen. Ich kenne aber auch Politiker, die waren schon nach kurzer Zeit überfordert.
Soll beispielsweise die Amtszeit eines Bundeskanzlers auf zwei Wahlperioden, also auf acht Jahre, beschränkt werden?
Dann hätte Adenauer 1957 zurücktreten müssen. Da war er gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht. Kohl hätte 1990 gehen müssen, zur Zeit der deutschen Einheit. Da war es wahrscheinlich gut, dass seine Amtszeit nicht begrenzt gewesen ist. Ich halte von solchen schematischen Festlegungen nicht viel.
Sie haben den Finanzskandal in Hessen als Ihr Damaskuserlebnis bezeichnet. Erst danach haben Sie sich von Kohl losgesagt. Warum eigentlich so spät?
Weil ich am Anfang des Skandals gedacht habe: Erst einmal die Reihen schließen, eine Familie hält zusammen. Politiker sind doch keine Engel. Ich habe auch Fehler gemacht. Von Robespierre habe ich nie viel gehalten. Die „Fehlerlosen“ sind Heuchler, außerdem noch unbarmherzig.
Aber Kohl hat nicht einfach nur einen Fehler gemacht. Er hat seinen Eid auf die Verfassung gebrochen, und zwar mehrfach.
Sie haben ja recht. Aber bis zum Hessen-Skandal hielt ich Kohls Fehler eben für einen Gesetzesverstoß aus guten Absichten und aus Nachlässigkeit. Ich dachte, das stehen wir durch. Daraus spricht wahrscheinlich die Mentalität eines Parteisoldaten, und ich bekenne mich dazu, ein solcher zu sein.
Warum ging das nach Hessen nicht mehr?
Im Ausland geparktes Geld als jüdisches Vermächtnis auszugeben, dazu gehört schon gewaltige zynische Phantasie. Das übertraf mein Vorstellungsvermögen. Damit hatte der Skandal eine andere Dimension erreicht.
Viele erklären sich Ihre Zögerlichkeit ganz einfach: Der Blüm war 16 Jahre Minister, so lange wie kein anderer, stellvertretender CDU-Vorsitzender und Teil des „System Kohl“. So einer ordnet sich unter.
Mein Zögern ist, hoffe ich, nicht das Resultat einer Abstumpfung im Beruf. Das ist eher mit einer in der Tradition der Arbeiterbewegung bekannten reflexartigen Solidarität zu erklären.
Verwechseln Sie das nicht mit Unterordnung?
Nein. An Streit hatte ich nie Mangel.
Haben Sie sich auch mit Kohl gestritten?
Ich habe in meiner eigenen Fraktion gegen die Steuerreform gestimmt. Ich habe in der Pinochet-Debatte im Bundestag geredet, obwohl mir meine eigenen Parteifreunde keine Redezeit gegeben hatten – die Grünen haben mir damals Redezeit gewährt. Wir haben uns in der CDU über Pflegeversicherung und Rente gestritten, wir haben uns wegen Chile, Türkei und Südafrika gefetzt. Meine Haltung war nie davon abhängig, ob ich Minister war oder nicht.
Andere in Ihrer Partei, wie Biedenkopf, Geißler und Späth, sind einfach aus dem Weg geräumt worden, weil sie Kohl zu aufmüpfig waren.
Ich war 1989 dagegen, dass Geißler nicht noch einmal Generalsekretär werden sollte. Aber das war kein Fundamentalkonflikt, der mein Gewissen belastet hat. Ich habe die Entscheidung mitgetragen, obwohl ich sie für falsch hielt. In der Politik ist es nicht anders als im normalen Leben: Man setzt sich nicht immer durch.
Würden Sie bestreiten, dass Kohl die CDU war? Was er sagte, war in der Partei Gesetz.
Ach, wissen Sie, heute tun alle so, als seien wir eine Partei oder ein Kabinett gewesen, dass sich permanent mit Kopfnicken beschäftigt hat. Diese Legende kann ich nicht bestätigen. Wir sind nicht vor Bewunderung eingeschlafen.
Kohls Führungsstil basierte auf Kungelei, Seilschaften, Halbinformationen, Verdunkelung.
Das ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit, und die ist bekanntlich eine ganze Lüge. Kohl besitzt eine große Hartnäckigkeit. Er scheut sich nicht, auch mal gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen. Beim Verfolgen seiner politischen Ziele zeigt er eine große Ausdauer. Er ist kein wetterwendiger Opportunist. Und was Ihren Vorwurf mit den Seilschaften betrifft: Kohl hat sich immer auch um diejenigen in der Partei gekümmert, die ihm gar nicht oder nicht mehr nützen konnten. Den Kreisschatzmeister in Hintertupfingen hat er noch im Krankenhaus angerufen.
Die Stärken, die einer hat, können gleichzeitig seine Schwächen sein.
Das weiß ich. Kohls Hartnäckigkeit ist heute eine große Gefahr für die CDU. Sturheit, die sich gegen Einwände abschirmt, ist keine Tugend. Und trotzdem ging es Kohl um mehr als nur um Macht. Er war kein Machiavelli.
Sind Sie unschuldig daran, dass die CDU am Abgrund steht?
Wer ist schon unschuldig? Kann sein, dass ich zu wenig nachgefragt habe.
Als stellvertretender Parteivorsitzender haben Sie von den schwarzen Kassen nie etwas gehört?
Nein.
Nicht einmal etwas geahnt?
Nein. Ich habe im CDU-Präsidium nicht wie ein Wirtschaftsprüfer agiert. Andere Probleme habe ich immer für wichtiger gehalten. Mein Sinn für Haushaltsfragen war noch nie besonders hoch entwickelt, nicht einmal zu Hause.
Machen Sie sich heute zum Vorwurf?
Wenn wir den Film noch einmal zurückdrehen könnten, und ich wüsste, was ich heute weiß, dann würde ich es anders machen.
Interview: Jens König und Karin Nink
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