: „Stress blockiert Erinnerung“
Wie krank ist Schäubles Erinnerungsvermögen? Gedächtnisforscher Hans Markowitsch erörtet die Problematik gestresster Hirnwindungen
taz : Wo hatte Wolfgang Schäubles Gedächtnis die Erinnerungen an die Treffen mit Waffenhändler Karlheinz Schreiber vergraben?
Hans Markowitsch: Es gibt mehrere Gedächtnissysteme. Da ist zum einen das Allgemeinwissen-Gedächtnis, in dem gelernte Dinge abgelegt werden. Wie zum Beispiel: Zwei hoch drei ist acht. Treffen mit Herrn Schreiber werden aber im so genannten autobiografischen Gedächtnis abgelegt. Und dieses Gedächtnissystem ist sehr anfällig für Störungen. Eine Stresssituation kann hier schnell zu einer Blockade führen.
Kann es also tatsächlich sein, dass Schäuble sich nur scheibchenweise erinnert?
Wahrscheinlich findet bei Schäuble eine besonders krasse emotionale Reaktion statt, wenn er an Herrn Schreiber erinnert wird. In diesem Fall werden Stresshormone freigesetzt, die den Abruf der Informationen tatsächlich blockieren können.
Sollten Politiker nicht besser mit Stress umgehen können?
Wir nehmen an, dass Politiker etwas robuster als andere Menschen sind. Sie haben allerdings auch mehr durchzustehen. Wenn es in kurzer Zeit ganz dicke kommt – das ist hier der Fall –, dann ist das eine Extremsituation
Wie beurteilen Sie Schäubles Robustheit?
Die Gallencholik, die er letztens hatte, war schon ein deutliches Zeichen, dass ihn Stress gesundheitlich anschlägt. Zu sagen, er könne sich nicht erinnern, weil er unter großem Stress steht, wäre ein vertretbarer Erklärungsversuch.
Das hieße ja, Schäuble würde sich erinnern, wenn man nicht mehr über die Spendenaffäre berichten würde.
Wenn Stress wirklich der Auslöser ist – ja.
Wie viel Macht hat man über sein Gedächtnis? Kann man sich zwingen, sich zu erinnern?
Da tritt das Gegenteil ein. Das kennt jeder aus dem Alltag. Wenn einem eine Telefonnummer entfallen ist und man bewusst nachbohrt, dann kommt die erst recht nicht wieder hoch. Viel Bewegung ist in diesem Falle förderlich. Denn durch körperliche Beanspruchung werden Glückshormone freigesetzt, die den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis erleichtern.
Mittlerweile kursieren vier verschiedene Varianten, wie die Übergabe der 100.000 Mark vonstatten gegangen sein soll. Könnte es sein, dass Schäuble, Schreiber, die Ex-Schatzmeister Baumeister und Walter Leisler-Kiep sich nur an einen für sie günstigen Ablauf erinnern können?
Das findet man sogar sehr häufig. Man nennt es das „False-Memory-Syndrome“: Man meint, sich absolut an ein Geschehnis zu erinnern, das so aber nie stattgefunden hat. Ein Verdrängungsmechanismus gehört zu jedem Menschen.
Für wie plausibel halten Sie es, dass Schäuble an diesem Syndrom leidet oder sich aus Stress nicht erinnern konnte?
Ich denke, dass jemand wie Wolfgang Schäuble sich trotz allem an die Begegnungen mit Herrn Schreiber erinnern können müsste. Und dass er momentan nur zugibt, was sich nicht bestreiten lässt. Anders ausgedrückt: Er tut das, was für ihn opportun ist.
Interview: Gunnar Mergner
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