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Euthanasie-Täter vor Gericht

■ Dem österreichischen Psychiater Heinrich Gross wird wegen Mordes an geisteskranken Kindern der Prozess gemacht. In Wien hatte er 50 Jahre lang Karriere machen können

Berlin (taz) – Der Mann genoss Ansehen: Bis ins hohe Alter war Heinrich Gross als Gerichtspsychiater gefragt. An mehreren hundert Prozessen hat Gross mitgewirkt. Der wohl begründete Verdacht, dass er sich als Arzt am Euthanasieprogramm der Nazis beteiligt hatte, schien seine Karriere nie zu behindern. Mehr als 50 Jahre lang. Ab dem 21. März muss sich der 84-jährige Gross nun vor Gericht verantworten: wegen Mordes an neun Kindern im Jahr 1944 in der damaligen Wiener Klinik „Am Spiegelgrund“.

Der „Spiegelgrund“, Teil des psychiatrischen Krankenhauses Baumgartner Höhe, war eine der Hauptstätten im nationalsozialistischen Euthanasieprogramm. Hier wurden Menschen, die den Nazis wegen körperlicher oder geistiger Handicaps als „unwertes Leben“ galten, aus der Welt geschafft – ermordet.

Der aufstrebende Psychiater Gross gilt als einer der Hauptverantwortlichen an diesem Ort des Schreckens. Er stellte eigenhändig 238 Totenscheine aus. Gegen ihn wird in neun Mordfällen Anklage erhoben, Totschlagsdelikte sind verjährt.

Der Leiter der Anstalt, Ernst Illing, wurde nach dem Krieg zum Tode verurteilt. Gross, Illings recht Hand, wurde 1950 zunächst wegen eines Falles von Totschlag zu zwei Jahren Haft verurteilt, in der Revision allerdings freigesprochen. Der Weg für eine ehrenwerte Karriere war geebnet.

Im Jahr 1953 trat Gross der SPÖ bei und kletterte die Karriereleiter hoch. Im Jahr 1968 bekam er sogar seine eigenes Forschungsinstitut gestellt. Dort konnte er sich seinem wissenschaftlichen Lieblingsthema widmen: der Erforschung von „Missbildungen am Nervensystem“. Zugute kamen ihm dabei seine Sammlung von etwa 400 als „missgebildet“ eingestufte und konservierte Gehirne. Zum großen Teil stammen ebendiese Gehirne von den Menschen, die in der Baumgärtner Höhe während der NS-Zeit getötet wurden. Seine Arbeit wurde geschätzt. 12.000 gutachterliche Aufträge werden ihm angerechnet. 1975 erhält er das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

Als er im Jahr 1979 einen Vortrag ausgerechnet über die kriminelle Energien von Schizophrenen halten wollte, erinnerte man sich wieder Gross’ Vergangenheit. Es hagelte Proteste. Seit 1981 darf jeder mit gerichtlichem Segen behaupten, dass Gross sich an einem Massenmord beteiligt hat. Aus der SPÖ wurde er ausgeschlossen, vom Wiener Straflandesgericht aber weiter beschäftigt – bis 1998, obwohl zu dem Zeitpunkt schon offiziell gegen ihn wegen Mordes ermittelt wurde – vom selben Gericht. Thekla Dannenberg

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