„AOK ein Fall wie Holzmann“

■ Die Schließung der Berliner AOK wäre für den Gesundheitsökonomen Klaus-Dirk Henke kein Beinbruch, sondern ein Signal für einen Neuanfang. Heute fällt die Bundes-AOK ihre Entscheidung

taz: Herr Henke, Sie haben mit Ihren Studenten im Bereich Gesundheitswissenschaft über den Zustand der Berliner AOK diskutiert. Finden Sie es dramatisch, dass die AOK vielleicht dichtmachen muss?

Klaus-Dirk Henke: Meine Studenten verstehen die Aufregung der vergangenen Monate nicht. Sie sagen, dass es in der neuen experimentiellen Kultur, die der ehemalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer mit seinen Reformen in Richtung Wettbewerb angestoßen hat, auch eine Krankenkasse Pleite gehen kann.

Finden Sie das auch so unproblematisch?

Wenn die Berliner AOK sich alleine nicht finanzieren kann und der Bundesverband nicht bereit ist, aus Solidarität seine Landeskasse zu subventionieren, dann muss diese die Beitragssätze erhöhen und sehen, wohin das führt.

Wenn der Beitragssatz, der derzeit schon mit 14,9 Prozent extrem teuer ist, weiter steigt, werden noch mehr Versicherte die AOK verlassen. Eine solche Entscheidung wäre ein Tod auf Raten. Finden Sie es nicht problematisch, wenn die größte Berliner Krankenkasse, die ein Symbol für die Gesundheitsversorgung der Einkommensschwachen ist, geschlossen würde?

Ein Teil der Mitglieder würde bleiben, weil sie schon immer in der AOK waren und die Frau in der Geschäftstelle an der Ecke nett finden. Sozialhilfeempfänger sind die Kosten egal, weil sie diese nicht selbst bezahlen. Aber es wäre kein Drama, wenn die AOK Pleite ginge. Die Patienten wechseln die Kasse und werden weiter versorgt. Die Verträge, die Ärzte und die Krankenhäuser mit der AOK haben, müssen von der Bundes-AOK übernommen werden.

Würde ein Scheitern der Hauptstadt-AOK nicht das Vertrauen in die solidarische, gesetzliche Krankenversicherung schwer erschüttern?

Ja, es kann schon sein, dass es zu einem Vertrauensverlust kommt, dass Psychologie eine Rolle spielt. Aber die Reformbedürftigkeit der sozialen Sicherungssysteme muss endlich in die Köpfe der Menschen vordringen. Wir können nicht das bismarcksche Gesundheitssystem unverändert weiterführen. Wenn es mit der AOK tatsächlich so weit kommt, muss man die Gunst der Stunde nutzen und aus dem kleinen Chaos einen Neuanfang machen, der bundesweiten Einfluss haben könnte. Aber selbst wenn der AOK-Bundesverband seine Förderung einstellt, glaube ich letztlich nicht, dass es zur Schließung der AOK kommt.

Weil SPD-Gesundheitssenatorin Gabriele Schöttler als Aufsichtsbehörde die AOK schließen müsste und dieses verheerende Signal zu Beginn ihrer Amtszeit verhindern will?

Ja. Wenn das Land Berlin aber aus politischen Gründen entscheidet, dass die AOK weiter existieren muss, dann muss das Land die Kasse subventionieren, und zwar mit jährlich 200 Millionen Mark. So groß ist das derzeitige Haushaltsloch der AOK. Das ist eine Subvention ähnlich wie beim Bauunternehmen Holzmann, und die muss auch so benannt werden. Der richtige Weg ist das aber nicht.

Weil es aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll ist, dass das Land eine Kasse unterstützt?

Es gibt bereits zu viele Verflechtungen. Das Gesamtsystem in Berlin muss entstaatlicht werden. Es kann nicht angehen, dass die Gesundheitssenatorin für die Krankenhausbedarfsplanung und für die Investitionsplanung zuständig ist, außerdem Aufsichtsbehörde für Krankenhäuser und Kassen undletztlich auch Träger der städtischen Krankenhäuser.

Lassen Sie uns etwas konkreter werden. Was würde es für die anderen Kassen bedeuten, wenn die AOK dichtmachen würde und sie deren „schlechte Risiken“, also alte, kranke und einkommensschwache Versicherte, übernehmen müssten?

Das würde bei den anderen Krankenkassen zu Beitragserhöhungen führen. Die Ersatzkassen, die anders als die AOK derzeit ja einen bundeseinheitlichen Beitragssatz haben, würden erkennen, dass sie durch Berlin besonders belastet werden. Die Debatte um die Regionalisierung der Ersatzkassen würde weiter angeheizt.

Regionalisierung bedeutet weniger Verantwortung für das Gesamtsystem, für alle Versicherten.

Es ist sinnvoll, dass die Menschen erfahren, was die Gesundheitsversorgung in ihrer Region, in ihrer Stadt wirklich kostet. Wie teuer es ist, wenn die Berliner Politik meint, dass es in jedem Bezirk ein Krankenhaus geben muss, das universitätsähnlich ausgestattet ist. Die Folgekosten müssen die Krankenkassen tragen. Ich meine, dass regionale Leistungen dort bezahlt werden müssen, wo sie entstehen. Man kann sich nur das leisten, was man auch bezahlen kann.

Was man sich leisten kann, hängt aber von den Einnahmen ab – und die gehen durch die hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne zurück. Bei der Berliner AOK sehen wir in zugespitzter Form, was ein Problem aller gesetzlichen Krankenkassen ist.

Ja, es gibt ein Einnahmeproblem. Die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung steht auf dem Prüfstand

Ganz schlecht geht es auch den AOKen in den neuen Bundesländern. Müssen die nach Ihrer Einschätzung dann auch schließen?

Das kann man jetzt noch nicht überschauen.

Interview: Sabine am Orde Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke ist Gesundheitsökonom und arbeitet am Fachbereich Wirtschaft der TU. Bis 1998 war er Vorsitzender des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen.