: Der Don Camillo der DDR
So sehen Irrtümer aus: Ein Bündnisgrüner und Bürgerrechtler aus Sachsen-Anhalt schreibt seine Erinnerungen an die DDR auf – und seine Landsleute finden das klasse. Worüber soll Hans-Jochen Tschiche nun schreiben? ■ Von Thomas Gerlach
Zuerst mal eine Enthüllung: Auf dem Umschlag des Buches ist Hans-Jochen Tschiche zu sehen – logisch. Zornig, entschlossen und gertenschlank stemmt er die Arme in die Seiten. So hat er gekämpft gegen das Unrecht in der DDR, immer zwischen zwei Stühlen. Hinter ihm weitet sich die Scholle, krumiger Acker über dem ein wolkiger Himmel schwimmt: Ein Titan der Bürgerrechte, sturmfest und erdverwachsen gegen die SED-Politzwerge. So jedenfalls stellen sich Umschlaggestalter einen Oppositionellen vor. Denn nur der Kopf ist echt. Der Rest ist Unterbau Marke „Zorniger Pastor“, ein Fake aus dem Computer wie die ganze Staffage. Ein Phantomleib, auf den Tschiches weißes Pastorenhaupt per Mausklick gepflanzt wurde, ein Kasper, der gleich den Knüppel rausholt, um das böse SED-Krokodil zu vermöbeln. Die Bildsprache zieht, Tschiches Buch „Nun machen Sie man, Pastorche!“ verkauft sich gut.
Ausgerechnet das Buch eines Oppositionellen wird in gefälschter Hülle feilgeboten. Der echte Tschiche lacht, qualmt und fläzt sich in einem weit geschwungenen Sessel, der auch als Hängematte durchgehen könnte, räkelt in seinem Wohnzimmer den Abend herbei, in der Hand das Buch. „Den Einband haben die vom Verlag gestaltet, ich habe da nicht widersprochen.“ Er habe einfach ein Passbild geschickt. So werden Treppenwitze gezimmert. Die Füße stecken in Plastiklatschen, der Bauch wölbt sich, rote Hosenträger leuchten.
Sachsen-Anhalts bekanntester Politrentner wohnt in einem Dorf bei Magdeburg. Der Bündnisgrüne verlor 1998 seinen Job als Fraktionsvorsitzender, weil seine Partei nicht mehr in den Landtag gewählt wurde. Dort hat Tschiche acht Jahre lang nicht nur die Lufthoheit überm Rednerpult innegehabt, sondern auch in der Kantine. Geschichten, Anekdoten und Kamellen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat schleppte Tschiche immer pfundweise mit sich herum, verteilte sie, gab sie zum Besten. Vielen Staatssekretären und Parlamentariern klappte die Kinnlade runter, wenn Tschiche anfing, seine vierzig DDR-Jahre in Episoden aufzudröseln. Über Stasi und Rat des Kreises, über SED-Funktionäre und Kirchenobere und darüber, wie aus dem Bäckerssohn zuerst ein Hilfsprediger, dann Pfarrer und Oppositioneller und nach der Wende einer der profiliertesten Grünen im Osten wurde.
Und da pensionierte Politiker oft der Krankheit des Memoirenschreibens anheim fallen, hat sie Hans-Jochen Tschiche auch ereilt, in abgemilderter Form: Den ganzen Wust an Kantinenstories hat er aufgeschrieben, 5.000 Exemplare sind gedruckt, die Landeszentrale für Politische Bildung sponsert das Ganze als Heimatkundebuch über den real existierenden Sozialismus. Der Verlag ist zufrieden, das Buch verkaufe sich fast so gut wie „Tod unterm Hexentanzplatz“, Kriminalfälle aus Sachsen-Anhalt. Erinnerungen nennt Tschiche das Buch, die Prosa eines Landpfarrers, im Frühjahr herausgekramt aus dem Gehirn, im Sommer in der Küche niedergepinselt und im Herbst auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Tschiche ruht nun in seinem Dorf von dem Schreibanfall aus, das Fenster steht sperrangelweit offen, Abendkälte und Gänsegeschnatter dringen herein. „Da habe ich in Frankfurt in diesem Zelt zwischen Gabriele Krone-Schmalz und Ilja Richter gelesen.“ Zwischen der tief dreinblickenden Fernsehfrau und dem Disco-Clown von damals: Der Ex-Pfarrer aus der Altmark, der erzählt, wie ihn die Bauern der LPG „Festes Bündnis“ vor über vierzig Jahren zu ihrem Buchhalter gekürt haben. Da sitzt er gut, der Altoppositionelle, der Chef der Evangelischen Akademie in Magdeburg war und den die Kirchenoberen liebend gern wieder in ein altmärkisches Kuhkaff zurückverfrachtet hätten.
Tschiche aalt sich in seinem Hängemattensessel, pafft und wundert sich: „Die Magdeburger Volksstimme hat das sogar als Fortsetzungsroman gedruckt!“ Er schüttelt den Kopf. „Als Roman!“ Das ehemalige Organ der SED-Bezirksleitung bezog von ihm Prügel, doch der jetzige Chefredakteur hatte eine Nase für Tschiches Heimatliteratur. Tagtäglich wurde halb Sachsen-Anhalt mit einer Geschichte versorgt, Lehrer, Hausfrauen, Pastoren blätterten beim Frühstück die Seite auf, wo das runde Gesicht herauslachte und plauderte, wie das damals so war. Ein Rentner verriet der Zeitung, dass er jeden Morgen seiner Frau im Bett den täglichen Tschiche vorgelesen habe. Und die Frau erfuhr, wie der dann Volkspolizisten austrickste, wie die Stasi zu einem Tschiche-Auftritt bemerkte, „ein ungepflegter Grauhaariger mit dicker Brille las Texte“, oder wie auch in Magdeburg aus der Revolution nur eine Wende wurde: Tschiche war im November 1989 als Vertreter des Neuen Forums zum Bezirksfürsten geladen und sollte erklären, was sie denn vorhaben. „Dass du mir ja nicht nach Macht gierst!“, hatte ihm eine Mitstreiterin noch gesteckt. Kurze Zeit später antwortete dem SED-Bonzen ganz der Friedenspfarrer: „Wir wollen Ihr Handeln kritisch begleiten!“ Tschiche lacht heute über so viel Blödheit. Aha, mochte der Funktionär gedacht haben, die Macht wollen sie also nicht. Ist ja auch besser so. „Wir waren doch schon mit dem Runden-Tisch-Komplex geboren“, sagt er, fügt hinzu: „Und hatten zu viele Skrupel.“ Und ist sofort in der Gegenwart: „Das ist vermutlich auch bei den Westgrünen so.“ Stets diese Angst vor der Macht. „Das Regierungsgeschäft mit den Kompromissen gilt bei einigen immer als Verrat“, sinniert Tschiche. „Unser Wählerpotenzial sind doch eher die Propheten als die Macher.“ Nur deswegen der Fünf-Mark-Benzin-Beschluss auf dem Magdeburger Parteitag.
Damit war Sense für die Grünen im Osten. Tschiche hat im Wahlkampf von grölenden Passanten zu hören bekommen: „Den Fischer, den muss man aufhängen!“ An den Grünen hing ab sofort Verlierergeruch. Aus. Feierabend. Pension für Tschiche. Höppner regiert mit dem „Magdeburger Modell“ weiter, die Grünen gucken zu.
Tschiche ist aufgestanden, kommt schlurfend mit Kaffee und Kuchen zurück und zerschneidet den bröckligen Klumpen. Wie ein Witwer in seiner zu groß gewordenen Wohnung, doch nicht mürrisch, eher nachlässig. Hier klappert keine Politikergattin mit Porzellan, Tschiche lebt seit der Wende von seiner Frau getrennt, seine jetzige Lebensgefährtin studiert, kommt meist nur am Wochenende aufs Dorf. Der Pensionär muss schon selber klarkommen. Auf dem Tisch türmen sich Fernbedienungen, Aschenbecher, Hefte, Zettel, Fotos, Bücher, Zigaretten, alles überragt von einer Flasche Lederpflegemilch. Irgendwo wartet Rotwein. Der Ex-Pastor würde in eine WG passen, gelegentlich den Flur wischen, zwischendurch seine Zigaretten qualmen, die Füße hochlegen und zurückschauen. Doch an der Vergangenheit rumknabbern, die Revolutionsknochen ablutschen und Empörung daraus saugen, das nicht. Den Mahner spielen, die Stimme des Ostens, als „Vater Courage“ tief in die Kamera blicken – das besorgen meist die Amtsbrüder Führer und Schorlemmer in Leipzig und Wittenberg. Und für den Fernsehblick bleiben Tschiches Brillengläser immer noch zu dick. „Wir haben in der Wendezeit die Türöffner gespielt. Die Raumausstattung haben dann andere übernommen.“ So ist das, wenn man sich am Schloss abarbeitet, ohne die anderen hinter sich zu bemerken, die nur warten, dass es aufspringt.
Als sich 1994 die rot-grüne Minderheitsregierung erstmals mit Gregor Gysi traf, um über eine PDS-Tolerierung zu reden, habe Höppner den feinen Zwirn im Schrank gelassen, einen Pullover übergestreift und sich in die zweite Reihe gestellt. Moderator war Tschiche. Die SPD wollte noch einen Puffer zwischen sich und den Schmuddelgenossen. „Später haben die dann über den Haushalt verhandelt. Das ging auf einmal ohne uns.“ Seit über fünf Jahren leben die Rot-Roten nun in wilder Ehe. Die Grünen sind aus dem Regierungsbett geplumpst. „Die PDS hat uns im Osten totgemurkelt. Ohne böse Absicht.“ Tschiche ist sich sicher. Und nun gerate die SPD in Schwierigkeiten. „Die Fünf-Prozent-Klausel wird jetzt auch für die gefährlich.“ Nein, Tschiche sagt das ohne Häme. Es ist bequem in seinem Liegestuhl, mal geht der Kopf hoch, mal fällt er zurück, draußen bellt ein Hund. Da kommt kein Eifer hoch, auch nicht gegen die PDS. Die haben einfach guten Acker geerbt: „Keine Frage, das ist die Partei der Kleinbürger. Und der Osten ist kleinbürgerlich.“ Hier werden die Sekundärtugenden hoch gehalten: Disziplin, Ordnung, Sauberkeit. Das sind die alten Banner, die die PDS hütet, bügelt und mit Aprilfrische von der Sorte „Bunte Truppe“ besprenkelt. Diese Fahnen bescheren der PDS bei jeder Wahl satte Gewinne. Die Bündnisgrünen dagegen winken mit ihren Sonnenblumen Weltoffenheit, Toleranz und Selbstbestimmung herbei, und kaum einer greift zu. Für Tschiche gibt es keine Rückkehr ins Parlament. Seine Ostler haben gegen Bündnisgrüne Vorbehalte, wie der Westen gegen die PDS. „Ich bleibe ein Exot, ich wohne hier, doch ich lebe nicht hier.“ Er fühle sich fremd im östlichen Deutschland, habe mehr Freunde und Bekannte im Westen.
Der Kosovokrieg wars. „Kriegskanzler Schröder und Einpeitscher Fischer! Wenn ich das höre!“ Jetzt richtet sich Tschiche auf, jetzt wird er doch noch fuchtig: „Da hat ein NVA-General gesagt, er sei stolz, in einer Armee gedient zu haben, die nie Krieg geführt hat.“ Die Ostdeutschen seien friedfertiger? Quatsch! Tschiche hat seine Erklärung: „Der Osten ist einfach deutscher und antiwestlicher.“ Er ahnt wohl, dass zwanzig Jahre ins Land gehen werden, bis die Grünen hier wieder eine Chance bekommen. Wenn überhaupt.
Und trotzdem lesen die Leute Tschiches Buch. Hoffentlich liegt kein Missverständnis vor. Die Sachsen-Anhalter suchen vielleicht nach einem Don Camillo aus der DDR und haben neben all den Realsatiren kein Ohr für Tschiches bittere Einsprengsel, er habe sich schon damals oft als Fremdling gefühlt. Und nun hängt Sachsen-Anhalt dem stoppelhaarigen Alten einen Orden um. Hans-Jochen Tschiche ist 70 geworden, Zeit für Staatsempfang und gestanztes Blech. Und Versöhnung: Der alte SED-Bezirkschef, unter Honecker Mitglied im Politbüro, gratulierte mit einem Telegramm.
Tschiche ist aufgestanden, hinübergegangen in das frühere Amtszimmer, steht vor vergilbten theologischen Kommentaren, hat die Brille hochgeschoben, versucht mit zusammengekniffenen Augen einen Zettel zu lesen. Das Bild mit seinen Vorbildern hat er übrigens abgehängt. Dorothee Sölle, Robert Jungk, Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King. Die Fotos waren eingestaubt, sagt er, und redet von der neuen Stiftung, der er vorsteht: „Miteinander“ ist ein Zusammenschluss für Demokratie und mehr Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt. Auf dem flachen Land sollen Treffpunkte für Toleranz entstehen, man könnte auch sagen: gegen die Glatzen. „Worüber soll ich jetzt noch schreiben?“ Tschiche schaut auf. So mag Gabriele Krone-Schmalz nach ihrem ersten Buch auch gefragt haben.
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