: Sprachlose Lehrkörper
Die GEW zerbricht sich den Kopf darüber, was Lehrer lernen müssen: Sie sollen alles perfekt können. Nur Angst dürfen sie auf keinen Fall haben ■ Von Christian Füller
Vielleicht weiß der Staatsanwalt schon mehr? Nein, die Dresdner Ermittler müssen sich weiter an die dürre Aussage von Andreas S. halten. „Ich habe sie gehasst“, beschreibt der 15-jährige Gymnasiast sein Motiv, mit dem er vergangenen November in Meißen (Sachsen) seine Geschichtslehrerin vor den Augen seiner Klassenkameraden erstach. Weiter ist man noch nicht.
So zurückhaltend die Strafverfolger, so unentschlossen sind die Verantwortlichen für Schule und Lehrerschaft. Der Mord in Meißen sei ein Einzelfall, wurde abgewehrt. An deutschen Schulen herrschten keine amerikanischen Verhältnisse, hieß es. Und dann brach eine Welle von Nachahmern über die deutschen Schulen herein, die Angst machte. Im bayerischen Metten legten ein paar Teenies ein kleines Waffenlager mit dem Ziel an, ihre Hauptschullehrerin zu ermorden. Im sächsischen Radeberg tauchte an einem Gymnasium eine Todesliste auf. In Berlin wurden Morddrohungen an einen Lehrer publik. Und und und. Plötzlich ist klar: Andreas S. kann in jeder Schulbank sitzen. Schüler sind auch hierzulande bereit, Lehrer umzubringen – oder es ihnen glaubhaft anzudrohen.
Die Frage lautete: Was wird die sonst so engagierte und kritische Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) tun? Ab heute findet ein großer Lehrerkongress der GEW in Hamburg statt. – Eine Enttäuschung. Bei der GEW geht es zu wie in vielen Lehrerzimmern: Wenn ein Kollege vor Angst und Unsicherheit in Tränen ausbricht, folgt das große Schweigen. Die GEW taucht ab und tabuisiert wortreich die Gewalt gegen Lehrer.
In Hamburg soll es drei Tage lang darum gehen, „was Lehrerinnen und Lehrer können wollen und sollen“. Viele Pauker erwarten, berichten die Organisatoren, „konkrete Antworten und Fortbildungsmaßnahmen, um auf die Situation reagieren zu können“. Die GEW aber bietet business as usual. Die Gewerkschafter schreiben die Debatte fort, die sie immer schon führten. „Wir diskutieren seit langem Reformen der Lehrerbildung“, sagt GEW-Chefin Eva-Maria Stange. Kürzlich noch hatte sie den dramatischen Appell ausgesandt, Gewalt gegen Lehrer sei „nur die Spitze des Eisbergs“. Jetzt fügt sie matt hinzu, dass Meißen „ein Stück weit neuer Antrieb“ für die Debatte um die Lehrerbildung sei.
Damit wiederholt sich das nimmermüde und folgenlose Pingpong zwischen denen, die für Bildung verantwortlich zeichnen. Die Konferenz der Kultusminister fühlt sich als Ganzes unzuständig, weil die Gewaltfrage – wie ein Sprecher sagt – „eine reine Ordnungsmaterie der Länder“ ist. In den Bundesländern aber fokussieren die Minister meist nur auf kurzfristige Programme der Gewaltprävention.
Die GEW greift derweil nach den Sternen. Sie formuliert ein umfassendes und geniales Lehrerbild – das wohl nie reale Exemplare hervorbringen wird. Lehrer, so ein Kongressmotto, sollen „polyvalent und professionell“ sein. Auf Deutsch: Sie sollen alles können – und das am besten perfekt.
„Alle am Lernprozess Beteiligten“, zählt ein GEW-Vorständler in bestem Politbüro-Deutsch auf, „sind gleichzeitig Lehrende und Lernende. Die Lern- und Arbeitsbeziehungen sind von Konsequenz, Verlässlichkeit, gegenseitigem Respekt [...] und der Überzeugung getragen, dass Erziehung, Bildung und Lernen kommunikative Entwicklungsprozesse sind, die um so besser gelingen, je mehr sie von Motivation, Lernlust, Sinn- und Ernsthaftigkeit, Humor und Menschenfreundlichkeit getragen sind.“ So geht es zwei eng bedruckte Seiten über „das professionelle Selbstverständnis von LehrerInnen“ weiter. Nicht ein Wort über die Angst der Lehrer, die Schulpsychologen seit Meißen registrieren. (Siehe Interview)
Mancher Teilnehmer des Kongresses winkt da nur noch ab. „Wir wollen keine Lernmaschinchen sein, die nach dem Abhackprinzip studieren und am Schluss gar nichts richtig können“, verweigert sich Lehramtsstudentin Jenny Hirsch dem Modell des Allrounders an der Tafel. Von der universitären Lehrerbildung und der GEW wird sie bei der heutigen Eröffnungsdiskussion in Hamburg fordern: Entzerrung, Entschlackung, individuelle Profilbildung.
Die Dresdner Strafverfolger haben inzwischen gelernt. Sie haben über den geständigen Andreas S. ein psychologisches Gutachten eingeholt. Es wird Zeit, dass dies auch bei den Lehrern geschieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen