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Langer Abschied vom Anderssein

„Spex“ galt einmal für viele Leute als „die beste Band Deutschlands“. Doch der Niedergang für das Zentralorgan der Popdissidenz begann schon in den frühen Neunzigern. Ein Rückblick aus beteiligter Sicht ■ Von Mark Terkessidis

Popkultur ist heute eine der kostspieligen „affirmativen Kulturen“ des Neo-Bürgertums geworden

In einem Inhaltsverzeichnis von Spex gab es mal ein Foto von den nächtlich noch hell erleuchteten Redaktionsräumen in der Aachener Straße mit der Unterzeile: „Es brennt noch Licht im Kreml“. Das war ein ironischer Verweis auf die Projektion, die ein Großteil der Spex-Wahrnehmung über die Jahre ausgemacht hat: Hier befindet sich das ideologische Zentrum der „Popweltanschauung“, hier werden die nächsten Fünfjahrespläne popkultureller Entwicklung vorausgespürt und theoretisch erschlossen.

Während man jedoch draußen eine allwissende Planwirtschaft halluzinierte, sah es innen – wie ich aus eigener Erfahrung als Redakteur in den frühen Neunzigerjahren weiß – immer eher chaotisch aus. Wie jedes „alternative“ Projekt verbarg sich hinter mit Platten überladenen Schreibtischen bei permanentem Telefongeklingel im schlechtesten Fall eine Mischung aus Zufällen und Menschlich-Allzumenschlichem, im besten Fall ein immer überinformiertes Diskussionsgrüppchen. Dabei waren die Unterschiede zwischen den Beteiligten durchweg immens: Ständig wechselnde Frontlinien verliefen zwischen Aktivismus, Intellektualität, professionellem Zeitungsmachen, Politik und allerlei Besessenheiten.

Lange Jahre entstand so ein Heft, das mit seiner Mischung aus popkulturellem Fachwissen, Musikfeuilleton und Cultural Studies in Deutschland seinesgleichen suchte. Heute wird der Verkauf dieses unabhängigen Organs (siehe taz vom 26. 1.) und damit das definitive Ende der bisherigen inhaltlichen Ausrichtung mehr oder minder abgenickt – sicher mit ein paar Tränchen in den Augen. Hatte irgendwie so kommen müssen.

In den letzten Jahren trudelte die Zeitschrift tatsächlich etwas orientierungslos durch eine veränderte Welt. Letztlich war Spex ein später Überlebender der Achtzigerjahre. Auch wenn es zwischendurch immer wieder großartige Hefte gegeben hatte, möchte ich behaupten, dass die Agonie bereits 1992 einsetzte. Indem man heute nach Gründen für den langen Abschied sucht, kann man der Arbeitsweise von Spex noch einmal gerecht werden: Man sollte ihr Verschwinden als Symptom für gesellschaftliche Veränderungen lesen.

In einem Aufsatz für eine frühe Ausgabe von Texte zur Kunst hat Diedrich Diederichsen einmal die beiden für Spex maßgeblichen ästhetischen Dissidenzmodelle vorgestellt. Zum einen gab es zu Beginn der Achtzigerjahre britischen Pop mit seiner „postmodernen“ Strategie der Subversion des Mainstreams: Während eine auf den Hund gekommene Post-68er-Hippie-Gegenkultur über die böse Kulturindustrie lamentierte und nach Identität suchte, demonstrierten die Protagonisten von Scritti Politti, ABC, Heaven 17 oder Human League Radikalität, indem sie die Künstlichkeit auf die Spitze trieben. Doch nach 1982 war ziemlich schnell klar, dass der Gedanke der Unterwanderung einfach verblasste, während Pop die Charts eroberte. In den mittleren Achtzigern gewann das Hardcore-Modell aus den Vereinigten Staaten an Boden. Denn im Gefolge von Punk hatte sich auch in Deutschland eine funktionierende Parallelgesellschaft um unabhängige Plattenlabels, Clubs, Fanzines und Läden gebildet. Hier ging es um Selbstbestimmung – die „richtige“ Musik und die angeschlossene Lebensform stützten sich gegenseitig.

1992 jedoch war das Jahr der Krise. Die Stichworte hießen: Nirvana und Hoyerswerda. Die Underground-Band um Kurt Cobain zerstörte mit ihrem Erfolg innerhalb von kürzester Zeit das Netzwerk, aus dem sie hervorgegangen war. Mit atemberaubender Geschwindigkeit verwandelten sich die verschlafenen Musikliebhaber der Independent-Szene in eine Ansammlung von geschäftigen Handybenutzern, während die sich zusammenballende Industrie den Underground als Blueprint der Flexibilisierung entdeckte. In der Landschaft der Musikpresse brach eine „neue Gründerzeit“ an, wobei die Sitten verwilderten. Viele Musikmagazine begannen damals zu tun, was heute längst üblich ist: Man tauschte ganz selbstverständlich Artikel über bestimmte Gruppen gegen Anzeigen derselben. Dabei würde niemand bestreiten, dass auch vorher der eine oder andere „Gefallen“ möglich war. Aber ich erinnere mich, dass man bei Spex naiv dachte, es ginge um die Produktionskosten, als das erste Mal ein Plattenlabel anfragte: „Was kostet eigentlich euer Cover?“ Eine Auseinandersetzung mit diesen für den neuen Kapitalismus paradigmatischen Vorgängen hat bis heute im größeren Maßstab nicht stattgefunden. Dabei wäre es sicher der Rede wert – zumal heute das WOM-Magazin Deutschlands größte Musikzeitung ist.

Die „Szene“ hatte vorher schon Sezessionsbestrebungen gezeigt. Als etwa HipHop und Dancefloor im Heft stärker wurden, ließen sich die Liebhaber von „Gothic“ endgültig nicht mehr unter das Dach von Spex scharen. 1992 explodierte die „Szene“ endgültig in einem Regen von konsumistischen Stilmeteoriten. Zudem geriet die Idee von Popkultur durch die rassistischen Pogrome und die darauf folgende Entwicklung einer rechten Jugendkultur unter Druck. Ziemlich paralysiert starrte man auf die rechte Aneignung der Gesten von popkultureller Revolte. Andere wiederum waren zu dieser Zeit bereits ins namenlose Land Techno unterwegs und sahen zwischen „ihrer“ Popkultur und rechten Schlägern überhaupt keinen Zusammenhang.

Doch die Dissidenzstrategien der Achtzigerjahre waren nun endgültig erledigt. Zweifelsohne waren diese Strategien bereits die Wiederholung popkultureller Gesten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren oder vielleicht sogar nur noch die Wiederholung einer Wiederholung. Doch in einem bestimmten Feld hinterließen sie ihre Signatur. Dass die Produktionsweise stets über dem Inhalt stand, war nicht falsch, aber am Ende das Verhängnis.

Jochen Distelmeyer von Blumfeld bezeichnete die Spex der Achtziger in Kneipengesprächen gern als die „beste Band Deutschlands“. In ihren besten Zeiten hatte Spex tatsächlich so etwas wie einen eigenen Sound. Doch seit 92 ging die Band Spex nicht mehr nach vorne los, weil sie plötzlich ernsthafte Kritik an der populären Kultur üben musste. Zuvor waren die besten Artikel selbst kleine Kunstwerke, die zwischen Feier und Analyse schwankten. Der Kritiker sensibilisierte ein Publikum für die beste Musik, indem er sich mit ihr identifizierte und gleichzeitig ihre ästhetische Subversionskraft oder Sperrigkeit aufzeigte. Man brauchte letztlich nur die eigene Begeisterung zu begründen. Eine Kritik im Sinne einer Verwerfung des Ganzen war nicht vorgesehen – es gehörte zu den ausgesprochenen Statuten, den hier zu Lande verbreiteten adornitischen Kulturpessimismus „unsexy“ zu finden. Daher brach in dem Moment, wo populäre Kultur zum Feld von konsumistischen oder rassistischen Akten der Differenzierung wurde, das filigrane Gebäude der Spex-Perspektive theoretisch und auch personell auseinander.

Zudem wurden Anfang der Neunzigerjahre im popkulturell „rückständigen“ Deutschland die tatsächlichen Bands und Projekte deutlich besser. Während man bei Spex in den Jahren zuvor hauptsächlich Kultur aus den Nischen des westlichen Auslandes präsentiert hatte, setzten sich heimische Trends auch ohne das Heft durch. Zweifellos war es elektronische Musik in ihren verschiedenen gleichzeitigen und aufeinanderfolgenden Ausprägungen, welche Spex gerade durch ihr vorgebliches Zukunftsversprechen ins Hintertreffen brachte. Dabei verstanden sich die meisten hiesigen Spielarten von Techno explizit als antidiskursiv. Insofern hatte jenes Bild einige Symbolkraft, auf dem Rainald Goetz dem DJ Sven Väth seinen Plattenkoffer trägt.

Heute beschreiben aktuelle Platteninfos aus den erfolgreichen kleinen Bastelstuben der elektronischen Musik die Unterschiede zwischen den Werken der eigenen Künstler als „Weiterentwicklung im Design, ein Schritt wie vom Audi A 6 zum Audi A 8“. In diesem Kosmos wird die Begeisterung des Autoren zum Ornament von Design-Differenzierungen. So schien es auch niemand mehr wirklich anrüchig zu finden, als Tobias Thomas in Spex über seinen eigenen Arbeitgeber schrieb – den Kölner Technopapst und Labelbesitzer Wolfgang Voigt.

Ein Spex-Redakteur erklärte vor einiger Zeit einmal, im Verhältnis zu Techno gebe es letztlich drei Optionen: Entweder sei man „leader“ oder „follower“ – ansonsten hieße es „get out of the way“. Sich selbst sah er dabei als „follower“. Doch nichts könnte der früheren Spex-Perspektive mehr widersprechen als ein Autor, der sich quasi mimetisch an die Musik anschmiegt. Denn zuvor illuminierten die Texte die Relevanz von Musik – mit der Konsequenz, dass das Problem der „Überinterpretation“ immer ein Bestandteil der Auseinandersetzung zwischen Autoren und Musikern war.

In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre haben sich dann Mainstream-Autoren bei jener frei flottierenden Thematik, Kompetenz und Gestik von Spex bedient. Ulf Poschard feierte die DJ-Culture als Ende popkultureller Dialektik, Benjamin von Stuckrad-Barre erklärte Oasis zum geschmacklichen Höhepunkt, und fünf Herrenmenschen spielten im Nobelhotel Adlon das „popkulturelle Quintett“. Schließlich hat das Feuilleton der Süddeutschen das Spex-Prinzip einer Philosophie des schnellen Zusammenhangs in folgenlose, flaneurhafte Betrachtungen übersetzt.

Dabei ist die populäre Kultur sicher nicht schlechter geworden. Allerdings ist jegliche Form der Dissidenz aus ihr gewichen: Popkultur ist heute eine der kostspieligen „affirmativen Kulturen“ des Neo-Bürgertums geworden. Dabei dient Kultur nicht mehr der aufklärerischen Befreiung von Unmündigkeit, sondern der individuellen Unterscheidung. Selbst widerspenstige Gesten innerhalb der Kultur werden nur noch als Differenzstrategien gelesen.

Selbstverständlich hören jene, denen der Spex-Diskurs etwas bedeutete, deswegen nicht auf, sich mit populärer Kultur zu befassen – ebensowenig wie Fußballfans nicht aufhören, sich für Fußball zu interessieren, weil es im Westfalenstadion sicher auch bald Logen gibt. Aber jener prickelnde, optimistische Spaß ist endgültig schal geworden. Es sei denn, man ist ein Neo-Bürger oder möchte in absehbarer Zeit einer werden.

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