: Identität, lass alle Hoffnung fahren
Drei Theaterregisseure um die dreißig, drei Uraufführungen in Hamburg: Sandra Strunz sucht im Mittelalter nach dem Glück, Karin Beier scheitert mit ihrem ersten Projekt, und Nicolas Stemann schickt Albert Ostermaier zurück an den Schreibtisch ■ Von Ralf Poerschke
Alles dreht sich um Identität“, sagt Karin (Karin Pfammatter), die es wissen muss, denn sie lebt bereits zur Hälfte im Cyberspace. „Wer bin ich denn, was ist mein Glück?“, fragt flehentlich Parzival (Oliver Bokern), dem gerade der Gral durch die Lappen gegangen ist. „Ich blick jetzt überhaupt nicht mehr durch“, schreit Desmond (Sebastian Rudolph) und tritt vor Wut ein Loch in die Betonwand, die sich als illusionistisch perfekte Pappkulisse erweist. Figuren auf der Suche nach sich selbst und der Wahrheit stolperten vergangene Woche durch drei Hamburger Uraufführungen: die Regisseure alle Anfang dreißig, die Stoffe indes Welten auseinander.
Sandra Strunz eröffnete den Reigen auf Kampnagel, dem Spielort der freien Szene. Geboren in Hannover und zur Regisseurin ausgebildet in Hamburg, ist die 31-Jährige im Geiste doch irgendwie eine Wahlschweizerin. Schräge Biografien sind ihre Spezialität: Das Leben von Armand Schulthess und Friedrich Glauser brachte sie auf die Bühne und zuletzt in Luzern das des Kunstmalers Strauch aus Thomas Bernhards Debütroman „Frost“. Nun hat sie sich erstmals an einen Altbekannten gewagt, einen Mythos, einen ordentlich deutsch aufgeladenen zumal, aber Sandra Strunz weiß, wie man Mythen kleinkriegt: Ihr Parzival ist spindeldürr, ziemlich doof, trägt kurze Sporthosen, und die großen Jungs lassen ihn nicht mit Fußball spielen.
Auf einem Bolzplatz entfacht sie, sich erstaunlich eng an Wolfram von Eschenbach haltend, die 800 Jahre alte Geschichte des vom Schicksal zur Gralssuche Bestimmten, den seine Mutter so gern auf immer von den ruppigen Rittersleut ferngehalten hätte, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Und tatsächlich leuchtet im Erzähltheater der Sandra Strunz die historische Kontinuität sofort ein: Auch in einer Jugendgang geht es um nichts anderes als Hierarchie, Kräftemessen, Ehre und den Besitz von Statussymbolen. Das ist stellenweise sehr komisch. Im Laden von Frau Abenteuer (Irene Eichenberger) kann man Chips und Cola kaufen, und Parzival erledigt mit einer Spraydose den roten Ritter, der hinterher fragt, ob er jetzt überhaupt noch weiter mitspielen darf. Das kann aber auch sehr traurig und ergreifend werden: Der 26-jährige Oliver Bokern ist ein Riesentalent, der Parzival von rührend naiv über gefährlich egoistisch bis tief verzweifelt durch alle Charaktertäler überzeugend folgt, und wenn er Gott lästert, sagt er „Gottarsch“.
Der Gral entpuppt sich selbstredend als Mogelpackung. Dass im entscheidenden Augenblick lediglich die Stimme einer Meditationskassette Momente innerer Zufriedenheit verspricht, finden die jungen Menschen auf der Bühne ziemlich lachhaft. Ein ganz anderes Glück ist es da, dass Frau Abenteuer von Außerirdischen entführt wird, weil man mithin ihren Laden plündern kann. Und jetzt klappt es auch mit dem Fußball, weil der lästige Schiedsrichter ebenfalls gen Himmel fuhr. Mit Strunz-typischem Mut zur Albernheit schließt dieser „Parzival“, der die allerorts drängende Identitätsfrage im lustvollen Spiel gänzlich aufzulösen wusste.
Eindeutig mehr wollte die 34-jährige Karin Beier, die nach ihrem mehrsprachigen „Sommernachtstraum“, der sie 1995 weithin bekannt machte, nicht mehr so experimentiert hat wie nun bei ihrem ersten Projekt „Futur Zwei“ im Schauspielhaus. Frank Baumbauer hatte sie vor fünf Jahren von Düsseldorf nach Hamburg geholt, wo sie fortan zunehmend unglücklich agierte. „Futur Zwei“ setzte in dieser Hinsicht einen furiosen Schlusspunkt.
Karin Beier schwebte in etwa vor, der immer noch sagenumwobenen Generation X ihre Last der Orientierungslosigkeit abzunehmen und sie dafür mit einer Art „Poesie des Banalen“ zu entschädigen. Dass sie dafür sieben ansonsten hervorragende Schauspieler, die sich an diesem Abend – wie im richtigen Leben – mit ihren Vornamen anreden, in neun Wochen Probenzeit vor allem über Douglas Coupland hat improvisieren lassen, geht ja sogar noch an. Auch dass nach zweistündiger High-Tech-Phrasendrescherei, sich abwechselnd mit wehmütigen Erinnerungen an die Natur und die Talking Heads, nicht mehr als müder Zweckoptimismus dabei rumkommt, sei geschenkt.
Dass aber die Regisseurin das von ihr gewählte Setting derartig lustlos bespielt, ist schon sehr ärgerlich. Die Menschen in diesem Großraumbüro haben einen starken Mitteilungsdrang, geben sich jedoch kaum kommunikativ. So bleiben die Figuren, die fast keine sind, allesamt Solisten (was beabsichtigt gewesen sein mag; umso schlimmer). Ein Percussionist und ein Cellist mühen sich redlich, diese von dramaturgischem Geschick ungetrübte Assoziationskette wenigstens musikalisch zu strukturieren – leider vergebens. Über all das legen sich inflationär Videoprojektionen: mal aufdringlich kitschig (Unterwasseraufnahmen!), meist hingegen einfältig das Bühnengeschehen duplizierend.
Wie man Video im Staatstheater auch jenseits modischen Pop-Gehabes einsetzen kann, nämlich als kraftvolles dramaturgisches, im nahezu klassischen Sinne Spannung erzeugendes Mittel, bewies zwei Tage später Nicolas Stemann gleich nebenan im Malersaal, dem kleinen Spielort des Schauspielhauses. Dass ausgerechnet er die Uraufführung von Albert Ostermaiers Auftragsarbeit „Death Valley Junction“ besorgen sollte, musste zunächst überraschen, hatte sich doch der 31-jährige Exkommilitone von Sandra Strunz am Hamburger Studiengang für Schauspielregie in den vergangenen Jahren vor allem mit klug durchgeschüttelten und zeitgemäß zugespitzten Klassikern von Sophokles bis Tschechow einen Namen gemacht. Werktreue kann allerdings auch so aussehen: Der Regisseur hat einen dermaßen speziellen Blick auf das Stück, dass der Autor – in diesem Fall der vielleicht ambitionierteste junge Dramatiker Deutschlands – sich noch mal an den Schreibtisch hockt und die eine oder andere Szene zusätzlich verfasst.
„Death Valley Junction“ ist für die Verhältnisse Ostermaiers, der von der Lyrik her kommt, eine fast naturalistische Arbeit, wenngleich sie reich ist an Anspielungen (Filme, „Göttliche Komödie“ etc.). Stemanns Interesse an dem mühelos auch konventionell aufführbaren Stück rührt daher, dass es eine Inszenierung zum Thema hat: Valery (Nina Kunzendorf) lotst ihren Freund Desmond an dessen Geburtstag zu Dante's View, dem höchsten Punkt des Death Valley. Auf der Suche nach dem (freilich leeren) Benzinkanister findet er im Kofferraum eine Leiche, die seine Sachen trägt. Gewaltbereite Rocker (Bettina Engelhardt, Philipp Hochmair) tauchen auf, und Desmond schwant, dass Valery Rache an ihm nehmen will; seine Sühne besteht darin, zu sterben und nicht zu wissen, wofür.
Nicolas Stemann ist von Beginn an sehr daran gelegen, die verschiedenen Realitätsebenen schön irreal miteinander zu verschweißen; der Zuschauer gerät in einen bedrohlichen Sog miteinander unvereinbarer Spekulationen; ein Metathriller hebt an; wer hier eintritt, kann getrost alle Hoffnung auf Auflösung am Schluss fahren lassen. Videoprojektionen ersetzen gespielte Szenen oder ergänzen sie äußerst effektvoll. Und wenn Desmond seinen Fuß im liebevoll imitierten Waschbeton des Malersaals versenkt, sind sogar die stets als unverletzlich geltenden Grundmauern des Theaterraums fragwürdig geworden. So verblüffend wurde die Identität eines Schauspielers mit seiner Rolle selten gebrochen. Ein unsagbar glücklicher Moment fürs Publikum.
„Parzifal“ nach Wolfram von Eschenbach. Regie: Sandra Strunz. Kampnagel, Hamburg, 23. – 26. 2. „Futur Zwei“, ein Projekt von Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus in Hamburg, 25. 2., 9., 18., 29. 3. „Death Valley Junction“ von Albert Ostermaier. Regie: Nicolas Stemann. Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Malersaal, 6. – 9., 14., 21., 22. 3.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen