: Von den Nazis ausgebürgert? Selber schuld!
Die Nürnberger Staatsanwaltschaft will deutsch-jüdischen Opfern der argentinischen Militärjunta nicht helfen. Die Nazis hatten sie als Juden ausgebürgert: also sei das deutsche Gericht nicht zuständig ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler
Leonore Marx war 28 Jahre alt, als sie am 21. August 1976 in Buenos Aires von Soldaten der damaligen Militärjunta auf offener Straße verhaftet und verschleppt wurde. Die Meteorologin und aktive Gewerkschafterin tauchte nie wieder auf. 23 Jahre später, im Dezember 1999, landete ihre Akte auf dem Schreibtisch des Nürnberger Oberstaatsanwalts Walther Grandpair. Der Grund: Leonore Marx war die Tochter einer deutsch-jüdischen Familie, die in der NS-Zeit aus Deutschland ausgebürgert wurde und nach Südamerika floh.
Ohne Ermittlungen will die Nürnberger Staatsanwaltschaft diesen Fall sowie drei ähnlich gelagerte wieder loswerden. Begründung: Die Opfer der argentinischen Militärjunta sind keine deutschen Staatsbürger und damit auch kein Fall für die deutsche Justiz.
Insgesamt zehn Strafanzeigen wegen Entführung und Mord hatte die „Koalition gegen Straflosigkeit – Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen in Argentinien“ gegen den damaligen Juntachef Videla und andere Militärs gestellt. Alle sind Kinder deutsch-jüdischer Familien, und alle wurden – wie rund 30.000 andere Menschen auch – von den Junta-Schergen verhaftet und verschleppt. Im Juni 1999 hatte der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck in den Fällen von Leonore Marx, Alicia Oppenheimer, Juan Miguel Thanhauser und Walter Claudio Rosenfeld dem damaligen Berliner Justizsenator Erhart Körting die Strafanzeigen überreicht.
„Man sollte sie so behandeln wie deutsche Bürger“
Körting leitete die Anzeigen dem Bundesgerichtshof (BGH) zu, damit dieser ein deutsches Landgericht als zuständigen Gerichtsstand bestimmt. Doch zwei Monate später intervenierte die Bundesanwaltschaft: Das deutsche Strafrecht finde zwar Anwendung, wenn an Deutschen im Ausland eine Straftat begangen werde, in diesen Fällen seien die Opfer aber keine Deutschen. Der BGH setzte sich jedoch darüber hinweg und verwies die vier Fälle und später auch noch die weiteren sechs an das Landgericht Nürnberg-Fürth. Es sei nicht der Fall, dass „zweifelsfrei keine deutsche Gerichtsbarkeit gegeben“ sei, argumentierte der BGH.
So landeten die Akten Ende Dezember in Nürnberg. Keine zwei Monate vergingen, bis die dortige Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens ankündigte. Man berief sich auf die Argumente des Generalbundesanwalts. Für Wolfgang Kaleck offenbart die Nürnberger Ermittlungsbehörde damit nicht nur ein „eklatantes Desinteresse an der Aufklärung der Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur“. Sie argumentiere gleichzeitig auf der Grundlage, dass die Zwangsausbürgerung durch das NS-Regime rechtskräftig sei.
Den Eltern der Opfer war von den Nationalsozialisten die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden. Nach 1945 wären die Eltern so behandelt worden, als hätten sie die deutsche Staatsbürgerschaft nie verloren und die Kinder wären bei Geburt automatisch Deutsche geworden. Weil man aber aus Gründen der Wiedergutmachung des Naziunrechts den Ausgebürgerten nach dem Krieg den oft verhassten deutschen Pass nicht aufdrängen wollte, wurde ihre Wiedereinbürgerung von einem entsprechenden Antrag ihrerseits abhängig gemacht. „Das wurde in den vier Fällen versäumt“, betont Nürnbergs Justizpressesprecher Ewald Behrschmidt. Dass die Verschwundenen diesen Antrag nicht mehr stellen konnten, weil sie in den Kerkern der Junta saßen, beeindruckt die Staatsanwälte nicht. Die Geschwister der Opfer haben inzwischen entsprechende Anträge gestellt und sind nun Deutsche.
Während die Nürnberger Staatsanwaltschaft strikt formal argumentiert, gebietet es für den Berliner Rechtsanwalt allein „der Gedanke der Wiedergutmachung“, die Opfer „ausnahmsweise unter den Schutz des deutschen Strafrechts zu stellen“. Man sollte sie so behandeln wie Deutsche, auch wenn sie es nach dem Staatsangehörigkeitsrecht nicht seien.
Kaleck fordert die Nürnberger Staatsanwälte auf, endlich die Ermittlungen aufzunehmen. Damit könnten sie im Sinne des Völker- und Menschenrechts in Argentinien politisch und juristisch viel bewirken. Kein Gesetz zwinge die Staatsanwaltschaft, die Verfahren zum jetzigen Zeitpunkt einzustellen, argumentiert der Anwalt.
Der Pass lag in der Botschaft zur Abholung bereit
Falls die Einstellung verfügt wird, will er Beschwerde einlegen und notfalls ein Klageerzwingungsverfahren einleiten. „Wir geben nicht kampflos auf“, betont Kaleck. Inzwischen hat sich der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel eingeschaltet. Er fordert die deutsche Justiz auf, gerade angesichts der argentinischen Amnestiegesetze hartnäckig weiterzuermitteln. Amnesty international will in den nächsten Tagen eine weltweite „urgent action“ starten.
Derweil wartet Kaleck gespannt auf die Ermittlungen in zwei anderen Fällen. Auch da stört sich die Nürnberger Staatsanwaltschaft an der fehlenden deutschen Staatsangehörigkeit, obwohl für die Opfer, beides Söhne deutsch-jüdischer Eltern, bereits deutsche Pässe ausgestellt waren. Marcelo Weiß war 27 Jahre alt, als er von den Militärs 1977 entführt und später ermordet wurde. Sein Pass lag in der deutschen Botschaft von Buenos Aires zur Abholung bereit. Deutscher wäre er formal aber erst gewesen, wenn er den Ausweis abgeholt hätte. Alfredo José Berliner, der 29-jährig im November 1979 von den Militärs verhaftet, verschleppt und liquidiert wurde, hatte seinen deutschen Pass schon auf der deutschen Botschaft in Mexico City abgeholt. Doch die Nürnberger Staatsanwaltschaft bemängelt, dass keine entsprechenden Unterlagen beim Bundesverwaltungsamt vorlägen.
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