: Das amerikanische Jahrhundert?
Amerika – Land der guten Hoffnungen?Für die afroamerikanische Bevölkerung lässt sich zu Beginn des neuen Jahrtausends diese Bilanz nicht ziehen. Von NORBERT FINZSCH
Der amerikanische Pressezar Henry R. Luce veröffentlichte 1941 einen Aufsatz in Life mit dem programmatischen Titel „The American Century“. Als Interventionist den Kriegseintritt der USA fordernd, sagte er voraus, in Zukunft könne die Demokratie der USA nur durch eine energische Außenpolitik und ein Ausgreifen des amerikanischen Kapitalismus in die Weltwirtschaft gesichert werden. „Von Sansibar bis Hamburg“ müssten amerikanische Waren verkauft werden, wenn der amerikanische Lebensstil sich durchsetzen solle. Allerdings bedeute der Anspruch auf so errungene Weltherrschaft auch die Rolle des „guten Samariters“ für die gesamte Welt. Seit dieser Zeit gilt das 20. Jahrhundert als das amerikanische Jahrhundert.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in den USA ein rassistisches Regime etabliert, das Afroamerikanern grundlegende politische Rechte verweigerte, sie von der Teilhabe am ökonomischen Reichtum der Nation ausschloss und im Süden wie im Norden ein System des Terrors und der Einschüchterung errichtete. Nach einer Studie der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP) wurden zwischen 1882 und 1927 4.851 Personen gelyncht, davon ungefähr 3.500 Schwarze, die meisten unter ihnen Männer. Jeder und jede, die die etablierte wirtschaftliche, politische oder kulturelle Unterordnung der African Americans in Frage stellte, konnte Opfer barbarischer Hinrichtungen werden. Afroamerikaner und Weiße begannen, gegen diese Praxis gemeinsam vorzugehen – ein historisches Bündnis, das auch während der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre hielt.
Obwohl eine nationale Gesetzgebung gegen Lynchmorde am Widerstand auch von Präsident F. D. Roosevelt scheiterte, sank die Zahl der Lynchings in den Vierzigerjahren auf Grund der von der NAACP betriebenen Aufklärungsarbeit und der Prozesse, die die Organisation gegen weiße Rassisten anstrengte.
Trotz andauernden politischen Drucks auf die Regierung änderte sich an der Diskriminierung von African Americans wenig, sodass afronationalistische Strömungen wie die „Universal Negro Improvement Association“ (UNIA) an Boden gewinnen konnten. Der schwarze Nationalist Marcus Moziah Garvey aus Jamaika hatte die Organisation gegründet. Er selbst war in die USA emigriert und hatte die Organisation vor dem Ersten Weltkrieg etabliert. Die UNIA propagierte einen schwarzen Kapitalismus und die Rückkehr der Afroamerikaner nach Afrika.
Nach der UNIA gründete 1930 ein Wallace D. Fard in Detroit eine der wichtigsten sozialen und religiösen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts: die „Nation of Islam“ (NOI), bekannter als Black Muslims. Während der folgenden vierzig Jahre wurde diese Organisation von Elijah Muhammad geführt. Unter seiner Führung begann die NOI überall im Land Tempel zu bauen, eröffnete Schulen und organisierte ein Netzwerk, das darauf abzielte, African Americans autark zu machen, indem sie Farmen bewirtschafteten, Geschäfte eröffneten oder Mietshäuser erwarben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Bürgerrechtsbewegung grundlegende Änderungen durch. Der Oberste Gerichtshof revidierte seine frühere rassistische Rechtsprechung in mehreren Grundsatzurteilen, darunter im Fall Brown versus The Board of Education des Jahres 1954. Mit dieser Entscheidung nahm der Supreme Court seine eigene Rechtsprechung aus dem Jahre 1896 zurück, die festgelegt hatte, dass die Rassentrennung in der Öffentlichkeit solange nicht verboten sei, wie die getrennten Einrichtungen gleich oder gleichwertig seien. Die Brown-Entscheidung bezog sich speziell auf Schulen, aber die Argumente, die Segregation sei schädlich und enthalte Minderheiten ihre Rechte vor, konnten leicht auf andere Bereiche übertragen werden.
Der Montgomery Bus Boykott von 1955 begann als Rosa Parks, eine schwarze Schneiderin und Mitglied des NAACP, sich weigerte, ihren Sitz aufzugeben, als ein Weißer sie aufforderte, den Platz zu räumen. Im Verlaufe dieses erfolgreichen Boykotts, der die Segregation in Montgomery beendete, profilierte sich der junge Pfarrer Martin Luther King als Führer der christlich orientierten gewaltfreien Bürgerrechtsbewegung des Südens. Ab 1960 ergriff diese zunehmend auch die Studierenden, schwarze wie weiße, und das „Students Nonviolent Coordinating Committee“ (SNCC) entwickelte sich zu einem entscheidenden Träger schwarzer Proteste. Durch die Friedensmärsche des Jahres 1961 wurde trotz exzessiver Gewalt und Einsatz von Polizei und Gerichten gegen die Bürgerrechtler die Integration der Überlandbusse durchgesetzt.
1965 sah neben dem Voting Rights Act auch eine der folgenschwersten Unruhen in den schwarzen Ghettos. In Watts, Los Angeles, hielten Brandstiftung und Plünderungen über Tage hinweg an, es gab Schwerverletzte und Tote. Dies war die größte „Rassenunruhe“ seit 1945. Wenig später wurde Malcolm X, der charismatische Führer des radikalen Flügels der Bürgerrechtsbewegung, in New York erschossen.
In der Folge radikalisierte sich die Bürgerrechtsbewegung und wandte sich verstärkt den wirtschaftlichen und außenpolitischen Problemen der USA (Vietnamkrieg) zu. Der Slogan Black Power wurde 1966 von S. Carmichael propagiert; er markierte das Ende der absoluten Gewaltfreiheit und der weißen Partizipation am Freiheitskampf der AfroamerikanerInnen. Im gleichen Jahr gründeten Huey P. Newton und Bobby Seale in Oakland die Black Panther Party (BPP), die sich ein sozialrevolutionäres Programm gibt und rasch Anhänger gewinnt.
Zum erneuten Aufflackern von Gewalt zwischen Schwarz und Weiß kam es im Sommer und Herbst 1966. In Omaha, Nebraska, San Francisco, in kleineren Städten in den Bundesstaaten Michigan und Illinois, wurde die Nationalgarde mobilisiert, um die Unruhen zu beenden. Dem FBI gelang es, nicht nur Martin Luther King und andere schwarze Aktivisten zu bespitzeln, sondern er startete auch eine Kampagne zur Diskreditierung und Zerstörung schwarzer Organisationen, der die BPP und andere radikale Gruppen zum Opfer fielen. 1968 wurde Martin Luther King in Memphis erschossen.
Andere politische Gruppen nahmen sich den Freiheitskampf der Afroamerikaner zum Vorbild. So organisieren sich Native Americans, Chicanos und Chicanas, Frauengruppen, Vietnamkriegsgegner und Studierende nach dem Vorbild afroamerikanischer Bürgerrechtsgruppen.
1969 nahm die erstaunte Öffentlichkeit von der Existenz der Schwulen- und Lesbenbewegung Notiz. Die Antikriegsbewegung und die Frauenbewegung erzielten in den Siebzigerjahren Erfolge, als der Widerstand gegen den Krieg wuchs und die Freigabe der Abtreibung durchgesetzt werden konnte. Gleichzeitig etablierte sich eine schwarze Mittel- und Oberschicht, die sich aus den Ghettos in die Vorstädte zurückzog und damit die Armut in den schwarzen Wohngebieten deutlicher zutage treten ließ.
Der rassistische und antifeministische Backlash der Achtzigerjahre, der von der „neuen christlichen Rechten“, von den Republikanern und Big Business gleichermaßen in Angriff genommen wurde, zerstörte viele der Ergebnisse der liberalen Sechziger- und Siebzigerjahre.
1977 klagte der weiße Student Alan Bakke gegen das Gleichstellungsprogramm (Affirmative Action) seiner Universität. Der Oberste Gerichtshof entschied, Bakke sei diskriminiert worden. Damit wurde das Ende von Affirmative Action eingeleitet.
1992 kam es in Los Angeles zu mehrtätigen Unruhen, die durch das rassistische Verhalten der Polizei ausgelöst wurden. Ursache der Unruhen war weniger der Rassismus der Polizei als die wirtschaftliche Not weiter Teile der schwarzen Bevölkerung, die auch in Zeiten des neoliberalen Booms nicht abgenommen hat.
Innenpolitisch stellt sich das „amerikanische Jahrhundert“, allen Legenden zum Trotz, also eher als ein Jahrhundert der verpassten Gelegenheiten dar. Der hohe moralische Anspruch in der Außenpolitik konnte in der amerikanischen Demokratie zu Hause nicht eingehalten werden.
Im Gegensatz zu Theorien, die von der größeren Flexibilität des organisierten Kapitalismus in den USA ausgehen, dessen Träger liberale Reformen wegen des enormen wirtschaftlichen Potenzials des Systems „zulassen“ konnten, muss man am Beginn des 21. Jahrhunderts konstatieren, dass die errungenen Erfolge erstens vorübergehend und zweitens samt und sonders mit hohem Einsatz der Betroffenen erkämpft worden sind.
Norbert Finzsch, 49, ist Professor für außereuropäische Geschichte an der Universität Hamburg
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