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Frauen in hohen Breiten

Fünf britische Frauen haben am 24. Januar den Südpol erreicht. Was haben sie dort zu suchen? Was zieht sie hinaus ins Weiß?

von BARBARA SCHAEFER

Wie alles begann: Ich war im Herbst nach Grönland geflogen, lebte zwei Wochen in Ammassalik, stromerte durchs Dorf, alberte mit Inuitkindern herum und glotzte in die Landschaft und aufs Meer. An einem Mittwoch flogen wir ab. Der Helikopter wollte nicht kommen, ich saß wartend auf einem Stein, schaute über die Bucht, in der ein Eisberg gestrandet war, und siehe da: Mir liefen Tränen übers Gesicht! – Ich wollte gar nicht weg! Wenige Monate später schmiss ich meinen Seesack vor die Tür eines roten Holzhäuschens und blieb drei Wintermonate in Ostgrönland.

So weit, so romantisch. Aber den Seesack schmiss ich vor die Tür, weil ich in das Häuschen zunächst nicht reinkam. Meterhoch lag Schnee davor. Frohgemut lieh ich mir eine Schneeschippe und schaufelte mich ins Haus.

Doch was Winter in Ammassalik bedeutet, schrieb ich eine Woche später an Freunde: „Ich springe aus dem Schlafsack, draußen Schneesturm. Etwas klappert: die Türe des Schuppens. Mit mehreren Schichten Klamotten stürze ich hinaus, ohne Frühstück, die Haustüre lässt sich nicht zuziehen, weil in allen Ritzen Schnee steckt. Die Schuppentüre weht wie ein Segel im Sturm, der Wind reißt sie mir aus der Hand, mein Daumen gerät dazwischen. Ich haste ins Haus. Es will nicht warm werden, das Holz ist verbraucht. Ich muss wieder raus! Der Wind bläst mich fast um. Obwohl ich vor ein paar Tagen ein Fixseil ums Haus gespannt habe, rutsche ich aus, knalle mit dem Knie aufs Eis. Zurück ins Haus. Trotz Goretex ist alles patschnass. Jacke auf die Leine, ein paar Scheite hineingeschoben, fast wird es gemütlich – doch der Wind reißt die Schuppentüre wieder auf. Ich bekomme Schreikrämpfe. Keine zehn Minuten bin ich im Trockenen, und nun muss ich wieder raus.“ Später plagten mich schlichtere Probleme: „Für mein Geburtstagsfest brauche ich einfache Rezepte! Der billigste französische Vin de table kostet sechzehn Mark und eine Dose Bier 2,80 – das wird meine teuerste Party.“

Christiane Ritter beklagte noch andere Mängel. „Bei kaltem Seehund und Kondensmilch genieße ich die helle Nacht. Mein Mann, der seit Jahren nur Steine und Eis zu sehen bekommen hat, gerät immer wieder in Begeisterung über zartgelben Mohn, der auf hauchdünnen Stengeln im Wind weht, während mich der Anblick der Blumen nicht rührt. Ich esse sie alle auf und bilde mir ein, es wäre vitaminhaltiges Gemüse.“ Das Buch „Eine Frau erlebt die Polarnacht“ ist ein Klassiker der Arktis-Literatur; in den Dreißigerjahren folgte die Wienerin ihrem Mann nach Spitzbergen und lebte ein Jahr in einer Jägerhütte. Sie zog ein weises Fazit über ihre weiße Zeit: „Man kann verrückt werden in Einsamkeit und Grauen, man kann auch verrückt werden vor Begeisterung über allzuviel Schönheit. Sicherlich wird man aber niemals in der Arktis etwas anderes erleben als das, was man selbst in sie hineingetragen hat.“

Mich ließen die hohen Breiten nicht mehr los. Ich las jedes Buch, auf dessen Einband Eisberge glänzten. Ich wollte verstehen, warum es Menschen in diese Unwirtlichkeit zog – mich eingeschlossen. In allen Erzählungen ist die Rede von dem besonderen Licht, und bis heute rührt es mich im Innersten, wenn ich an die blauen Eisberge zurückdenke, die im gleißenden Sonnenlicht aus dem Fjord von Illulissat ins offene Meer hinaustrieben.

Wie alle Wüsten ist auch die Eiswüste elementar, Leben und Tod liegen hier so dicht beieinander wie in der Sahara. Dort kann man ohne Wasser nicht überleben, hier nicht ohne Wärme. In der Provence ist es gemütlicher, aber Gemütlichkeit ist nun mal kein Zustand, der zum intensiven Nachdenken anregt. Manche Menschen, mich eingeschlossen, brauchen dazu extremere Bedingungen. Ich begann, nach Eisfrauen zu suchen und fand Berühmtheiten wie Fräulein Smilla und unbekannte Heldinnen wie Josephine Peary; sie begleitete ihren Mann Robert E. Peary zwar nicht bis zum Nordpol, fuhr aber 1893 hochschwanger mit nach Nordgrönland. Eskimofrauen begleiteten den Arktisforscher Knud Rasmussen auf seiner fünften Expedition „Thulefahrt“, aber bis die erste Frau zum Nordpol lief, sollte es lange dauern. Erst 1986 gelang das Ann Bancroft.

„Kommt gar nicht in Frage“ – der Leiter des deutschen Polarforschungszentrums in Bremerhaven lehnte rigoros ab, als Ende der Achtzigerjahre (des 20. Jahrhunderts!) Wissenschaftlerinnen ein Jahr auf der Georg-von-Neumayer-Station in der Antarktis überwintern wollten. „Aber Sie können ja ein Frauenteam zusammenstellen“, fügte er an. Vielleicht hatte er nicht mit ihrem Ehrgeiz gerechnet; im März 1990 stehen neun Frauen an der Schelfeiskante und winken dem „Polarstern“ zu, der Eisbrecher dreht ab, die Frauen bleiben allein zurück, in der Antarktis, einem Plätzchen so unwirtlich, dass Grönland dagegen wie die Toskana wirkt.

Auch in diesen Tagen hocken, zusammen mit sechs Männern, drei Frauen in den Röhren im Gletschereis der Antarktis: die Chemikerin Andrea Wille, die Meteorologin Heidi Schmid sowie die Köchin und Krankenschwester Tina Wöckener. In ihrer Freizeit sitzt Heidi Schmid in ihrem Zimmer und hört Musik oder bastelt an einer Patchworkdecke. Angst hatte sie nie, doch wenn es draußen stark driftet, „bin ich froh, wenn mich jemand zur fünfhundert Meter entfernten Halle begleitet, wo meine Wetterballons starten“, erzählt sie per E-Mail. Was vermisst sie? „Frisches Obst, den Starnberger See und die Alpen.“ Die Köchin Tina Wöckener sieht das pragmatischer: „Ich vermisse ein gut gezapftes Bier in meiner Stammkneipe ,Sir Winston Pub‘ in Lübeck!“

Die fünf britischen Frauen, die nach einem sehr langen Marsch unlängst am Südpol standen, sind die erste Frauenexpedition, die beide Pole zu Fuß erreicht hat. Die Britinnen waren schon vor drei Jahren mit weiteren zwanzig Frauen am Nordpol. Nun starteten sie am 24. November erneut, diesmal in der Antarktis. Während ihres Marsches zogen sie sämtliche Lebensmittel und ihre gesamte Ausrüstung auf Schlitten. Diese wogen mit 135 Kilo jeweils das Doppelte ihres Körpergewichts.

Emotional landscape singt Björk mit Eisesstimme. Fräulein Gudmundsdóttir ist der bekannteste Export Islands, ihre Wurzeln liegen in einer explosiven Zone, unterm Eis, auf dem Vulkan. Über ihre Heimat sagte Björk in einem Interview: „Es war stockdunkel. Nordlichter flirrten über eine dicke Wolkenschicht. Unten knirschten die Lavafelder. Das war wirklich Techno.“

Eine Schwester im Geiste ist Hansine Jensdóttir, Goldschmiedin in Reykjavík. Sie verwendet für ihre Arbeit nur isländische Steine. Aber Hansine poliert sie nicht, „die Landschaft Islands ist ja auch nicht poliert.“ Sie war mal in Calgary, das liegt ja auch nicht grad im Süden. „Nein, von der Hitze werde ich so müde. Kreativ bin ich nur im Norden.“

Elke Meissner lebt als Reiseveranstalterin schon seit über zwanzig Jahren in Grönland – und wurde 1998 deutsche Ehrenkonsulin. Sie fährt mit Hunden und begleitet Schlittengruppen. „Am liebsten würde ich immer in Grönland bleiben. Ein Leben anderswo kann ich mir schwer vorstellen, eine ernsthafte Krankheit hier allerdings auch nicht ...“

Für uns Südeuropäer ist das Leben im Eis ein Abenteuer, doch viele, die dort leben, wollen nichts wie weg. In Ammassalik freundete ich mich mit der achtzehnjährigen Christiane an. Was die Inuitfrau erzählte, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Als sie sechs war, kam sie ins Kinderheim, weil die Eltern soffen. Mit dreizehn war sie das erste Mal schwanger. Ihre fünfzehnjährige Schwester Ana hörte stundenlang die Cassette, auf der nur ein trauriges Lied war. Sie dachte an ihren Bruder, der sich umgebracht hatte. In einer hellen Nacht ging ich mit den Schwestern spazieren. In der Bucht glänzten die Flanken eines Eisbergs, ein Caspar-David-Friedrich-Motiv, zum Malen schön. Christiane sagte: „Ich bin's so leid, all das die ganze Zeit zu sehen.“

Andrea Kippe aus der Schweiz ging als Tourenguide nach Spitzbergen. Als Kind hatte sie Abenteuergeschichten verschlungen, sie wollte „so weit kommen, dass man mich allein mit einem Taschenmesser im Wald aussetzen könnte und ich in der Lage wäre, zu überleben“. Die schönste Erfahrung sei der freie Kopf gewesen, weil es in der Wildnis keine zivilisationsbedingten Ablenkungen gebe.

Achtmal in Grönland und 23 Mal in Island war die Journalistin Sabine Barth. Sie stellte fest, dass es Frauen leichter falle, mieses Wetter auszuhalten. „Frauen sind ausdauernder. Dennoch reise ich gern mit einem Mann – er kann mehr tragen als ich.“ Interessant sei die Leidenschaft der Männer, wie sie sich in der Literatur darstellt. „Männer vergleichen den Norden, das Eis, das Nordlicht mit einer Geliebten. Amundsen sprach sogar von Todessehnsucht.“ Die literarischen Eisfrauen seien dagegen, „die Kundigen oder zumindest Lernbereiten und letztlich Überlebensfähigen.“

Was war das Schönste? Habe ich die Eisfrauen gefragt, und schließlich auch mich. Das war das Schönste: Einmal schnallte ich mir Tourenski an und lief hinaus auf das zugefrorene Meer. In einer Bucht setzte ich mich auf einen Felsblock, die Sonne gleißte, ein Einheimischer zog mit seinem Hundeschlittengespann vorbei und sah mich nicht, der kalte, harte Schnee stieb auf. Und ich wusste: Wenn ich nun einfach weiterlief, den Nachmittag und die Nacht, dann würde ich nicht überleben. Es war ein wundervoller Tag, aber bald würde es bitter kalt werden, minus zehn, minus zwanzig, wer weiß.

Und dieser Gedanke war ungemein faszinierend, nie zuvor hatte ich mich so stark gefühlt, hier sitzen zu können, dies zu überlegen und dann umzudrehen, zurückzugleiten in den Ort. Ich hatte keinerlei Todessehnsucht, ich war nur glücklich.

BARBARA SCHAEFER lebt als freie Reiseautorin in Berlin. Ihre Lieblingsziele sind Italien und das Eis

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