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Hauptstadt will Gay Capital werden

Auf der ITB präsentiert sich Berlin mit einem neuen Konzept: Fernsehturm und Siegessäule sind out, die Reichstagskuppel ist in. Zum ersten Malwerden Lesben und Schwule aus Übersee direkt als Touristen angeworben. Die Schwulenszene nimmt ihre Rolle als Werbeträger der Stadt an

von RICHARD ROTHER

Im neuen Jahrzehnt muss alles neu sein. Das gilt sogar in Berlin, und deshalb präsentiert sich die Hauptstadt auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) mit einem neuen Antlitz. Der Fernsehturm im Osten und die Siegessäule im Westen – die beiden Wahrzeichen, die auf keiner Postkarte aus Vorwendezeiten fehlten, sind heute out. In sind heute der Reichstag und das Brandenburger Tor. Rund 4.000 Besucher drängeln sich täglich in den Reichstag, um die Kuppel zu bewundern, und kaum ein Berlin-Besucher verpasst das Brandenburger Tor.

Kein Wunder, dass sich das jetzt auch bei der Berlin-Präsentation auf der ITB niederschlägt. Ein acht mal fünf Meter großer Nachbau des Säulentores bildet den Eingang zum Berlin-Stand. Das Bauwerk wird permanent angestrahlt mit Dias verschiedener Berliner Attraktionen: Love Parade, Rotes Rathaus, Reichstag, Berlin Marathon. „Berlin hat ein neues Gesicht“, sagt Natascha Kompatzki, Sprecherin der Berlin Tourismus Marketing GmbH (BTM).

„Berlin ist absolut trendy“, lässt sich auch Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner (CDU) zu Euphorie hinreißen. Die aktuelle Entwicklung freut den Senat. Der Tourismus ist einer der wenigen Wirtschaftszweige, die überhaupt wachsen.

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Übernachtungen auf rund 9,5 Millionen, knapp 15 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Ein beachtlicher Anstieg – insgesamt wuchs die Berliner Wirtschaft nur um magere 0,1 Prozent und blieb wie auch in den Jahren zuvor bundesdeutsches Schlusslicht. Rund 50.000 Jobs hängen in Berlin am Tourismus. Branoner hofft, dass es in fünf Jahren 30.000 mehr sein könnten.

Tourismusexperten bremsen allerdings die Euphorie. Der Touristenboom in der Hauptstadt sei so etwas wie eine nachholende Entwicklung, sagt ein Branchenkenner. Vergleicht man die Besucher- mit den Einwohnerzahlen, liegt Berlin immer noch erheblich hinter Städten wie Frankfurt am Main oder München zurück.

Von der ausländischen Konkurrenz ganz zu schweigen: Die englische Hauptstadt London beispielsweise verbucht jährlich rund 65 Millionen Übernachtungen, siebenmal mehr als Berlin.

Darüber hinaus ist der Boom hauptsächlich auf die Inlandsnachfrage zurückzuführen. Während aus dem Inland knapp 20 Prozent mehr Besucher kamen, waren es aus den USA nur 5 Prozent.

„Berlin muss internationaler werden“, fordert BTM-Chef Hanns Peter Nerger. Die sonst etwas biederen Tourismuswerber haben sich dafür sogar etwas Neues ausgedacht: das Gay Marketing, mit dem vor allem der lukrative US-Markt erobert werden soll. Hintergrund für diese Marketing-Aktivitäten ist eine Umfrage unter US-Schwulen und -Lesben. Das Ergebnis zeigt: Sie sind mobiler, verfügen über mehr Geld und reisen häufiger in Städte als Heteros.

Die Berliner Tourismusmanager umwirbt sie seit Jahresbeginn gezielt mit Anzeigen in Schwulenmagazinen und Präsentationen auf Gay Events – für die BTM ist das die erste Zielgruppenwerbung überhaupt. Zusammen mit der Lufthansa wurde eigens das Städte-Reise-Angebot „Gay Capitals of Europe“ entwickelt – darunter Berlin, Amsterdam und London.

Damit nichts schief geht, wenn die wissbegierigen Lesben und Schwulen vor den BTM-Shops stehen, wurden die Mitarbeiter in Schulungen für die neue Zielgruppe sensibilisiert. Und an den Ladentüren klebt ein Regenbogenfähnchen. „Wir wollen so Hemmschwellen abbauen“, sagt Kompatzki.

Die Berliner Schwulenszene hat offenbar kaum Probleme damit, Werbefaktor zu sein. Im Gegenteil. Die Organisatoren des Christoper Street Days (CSD) sind auf der Tourismusbörse mit einem eigenen Stand vertreten, und das schwule Internetmagazin gay-press.de druckt ein ausführliches Interview mit BTM-Chef Nerger.

„Das ist doch wunderbar, wenn mehr Schwule aus aller Welt herkommen“, sagt ein Mitarbeiter des Schwulen Notruf-Telefons.

Einem autonomen Schwulen-Aktivisten ist das Ganze allerdings ein Dorn im Auge. „Die reichen Schwulen werden als Touris hergelockt, Flüchtlinge aber rigoros ausgegrenzt.“

Für Jürgen Bieniek, Sprecher des Schwulenzentrums Mann-O-Meter, hingegen ist der Werbefeldzug Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels. „Schwulsein wird nicht mehr tabuisiert, sondern als Realität anerkannt.“

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