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Volksseele unterm Vergrößerungsglas

In Ahrensbök steht das einzige erhaltene KZ-Gebäude Schleswig-Holsteins. Die „Gruppe 33“ kämpft für eine Stätte des Gedenkens an die Geschichte und gegen den Antisemitismus der Gegenwart  ■ Von Elke Spanner

Nichts wollte Martin Schwer mit der braunen Geschichte des Ortes zu tun haben, gar nichts. Schließlich war es seine erste Pastorenstelle. Viel hatte er sich vorgenommen, aber bestimmt nicht, die BewohnerInnen von Ahrensbök gegen sich aufzubringen. Der Plan ging auch fast ein drei viertel Jahr lang gut. Bis er 1996 mit einer KonfirmandInnengruppe das alte Testament besprach. Und ein Mädchen fragte, ob Moses Jude gewesen sei. War er, und Jesus auch, klärte Pastor Schwer sie auf. Woraufhin die Konfirmandin verächtlich die Bibel zuklappte und rief: „Was macht der scheiß Jude in unserer Bibel?“ Die anderen Jugendlichen stimmten ein. Da wusste Schwer, er hat ein Problem.

Vier Jahre ist es her, dass er sich unversehens in der „völlig antisemitischen Gruppe“ wieder fand. Heute kann er die Geschichte nahezu unberührt erzählen, schmunzelt sogar leicht in Erinnerung an die Ratlosigkeit, die ihn zunächst überfiel. Nicht, dass er die Jugendlichen wirklich zum Umdenken hätte bewegen können. Auf die Frage nach einer linken Gegenkultur lacht er spöttisch auf, als sei es völlig abwegig, dass Jugendliche in Ahrensbök anders denken könnten als rechts. Dennoch, versichert Schwer, hat sich seither viel in der 8000-Seelen-Gemeinde getan. Eine antifaschistische Gedenkstätte steht kurz vor der Gründung. Mittlerweile gehört sogar der stellvertretende CDU-Bürgermeister zu den UnterstützerInnen. Anfang der Neunziger Jahre noch hatte dieser Sam Pivnik, einen Überlebenden des Todesmarsches vom KZ Auschwitz nach Schleswig-Holstein, in Ahrensbök mit den Worten beschimpft: „Der Jude hat von jeher die Kriege gemacht, und er wird auch weiterhin Kriege machen.“

In der Landgemeinde Ahrensbök, so die Beschreibung des Kieler Kultusministeriums, sind „wie unter einem Vergrößerungsglas Anfang und Ende der NS-Diktatur erkennbar“. Hier finden sich nicht nur die einzigen in Schleswig-Holstein erhaltenen Gebäude eines Konzentrationslagers, sondern auch die Spuren eines Todesmarsches zweier Häftlingskolonnen von Auschwitz-Fürstengrube nach Holstein. Auf den Marsch wurden die KZ-Gefangenen geschickt, als im Frühjahr 1945 die Alliierten vorrückten und die Nazis entschieden, die Miss-handlungen der KZ-Insassen zu vertuschen. Nur wenige Häftlinge überlebten die Tortur. Die Strecke führte nach Ahrensbök, weil der damalige SS-Lagerführer in Fürs-tengrube, Max Schmidt, aus dem Nachbardorf Steinfeld kam. Noch heute lebt er im Landkreis.

Nach der aufschlussreichen Konfirmandenstunde 1996 stand Pastor Schwer mit dem Thema noch alleine da. Er wusste zunächst nur, er muss etwas tun. Aber was? Schwer lud zunächst den Historiker Gerhard Hoch zu einem Vortrag ein. Hoch hatte Anfang der Neunziger das Buch „Von Auschwitz nach Holstein“ herausgegeben. Nach dem Vortrag drohte ein anonymer Anrufer dem Pastor, er müsse sich um Polizeischutz bemühen, sollte er diesen Historiker noch einmal ins Dorf holen. Und als Hoch Schwer bat, sich mit ihm um eine Neuauflage des vergriffenen Buches zu bemühen, versagte seine eigene Kirchengemeinde dem Pastor eine finanzielle Unterstützung.

Doch zu der Veranstaltung waren rund 60 Leute gekommen, und das machte Mut. Einige aus der Runde setzten einen Brief an den KZ-Überlebenden Sam Pivnik auf und luden ihn nach Ahrensbök ein. Dem Pastor gelang es, 50 UnterzeichnerInnen dafür zu finden. Aus dem Kreis entstand die „Gruppe 33 – Arbeitsgemeinschaft für Zeitgeschichte in Ahrensbök“, die sich für die Errichtung der antifaschistischen Gedenkstätte im Dorf einsetzt. Heute hat sie 15 Mitglieder.

Sitz der Gedenkstätte soll das „Direktionshaus“ an der Bundesstraße 432 sein. Darin befand sich von Oktober bis Dezember 1933 ein Konzentrationslager – das einzige in Schleswig-Holstein, dessen Gebäude heute noch erhalten ist. Rund 300 Menschen waren damals hier interniert: KommunistInnen, SozialdemokratInnen, GewerkschafterInnen. „In dieser Phase nach der Machtergreifung nutzten die Nationalsozialisten das KZ, um politische Gegner auszuschalten und ihre Macht zu stabilisieren“, erklärt Schwer. Als im Gebäude der vorheriger Realschule die „Führerschule der SA Nordmark“ eingerichtet wurde, wurde das Direktionshaus als Realschul-Gebäude gebraucht. Die Nazis lösten das KZ wieder auf. Ab 1940 brachten sie schließlich belgische und sowjetische ZwangsarbeiterInnen dort unter. Nach dem Krieg wurde das Direktionshaus lange gewerblich genutzt. In den neunziger Jahren wohnten dort zeitweilig Asylsuchende. Heute steht das Haus leer.

Die Gruppe 33 will das Gebäude kaufen. Der jetzige Eigentümer hat zugestimmt, will aber Geld dafür haben, „er ist Kaufmann“, sagt Schwer. Die Kommune Ahrensbök hat der Gruppe 50.000 Mark für den Erwerb zugesagt, der Kreis und das Land Schleswig-Holstein haben ebenfalls finanzielle Unterstützung versprochen. Das Kieler Kultusministerium hat zudem Geld beim Bund beantragt. „Die exemplarische Bedeutung des Ortes“ heißt es im Schreiben an den Bundesbeauftragten für Kultur Michael Naumann, „ist mit dem nahtlosen Übergang vom FAD-Führungslager der späten Weimarer Republik in die staatlich verordnete Zwangsarbeit des NS-Regimes ebenso gegeben wie mit der schaurigen Nähe zum Todesmarsch der Auschwitz-Häftlinge“.

Die Gedenkstätte, betont Schwer, soll kein Museum beherbergen, sondern thematische Aus-stellungen, Seminarbetrieb, Sommerlager für Jugendliche. Angestoßen wurde die Idee, als Sam Pivnik 1998 zur Präsentation der Neuauflage des Buches „Von Auschwitz nach Holstein“ nach Ahrensbök kam. Durch den Kontakt mit dem KZ-Überlebenden, so der Verdacht von Schwer, „kamen die Kirchengemeinde und der Bürgermeister unter moralischen Druck“. Sie schlugen plötzlich vor, ein Denkmal für den Todesmarsch zu setzen. Die Gruppe 33 war erfreut über die Resonanz – und gleichzeitig besorgt, dass „einfach ein Findling beschriftet und vor dem Klärwerk aufgestellt wird“. Deshalb baten die AntifaschistInnen einen Professor der Universität Bremen, ein Konzept für einen „Denkraum“ im Direktionsgebäude zu erarbeiten.

Parallel nahm die Gruppe Kontakt zu dem Künstler Wolf Leo auf, der bei Ravensbrück mit Jugendlichen eine Todesstrecke der Frauen des dortigen Konzentrationslagers künstlerisch markiert hatte. Im Sommer vorigen Jahres dann organisierten sie zusammen mit der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ das „Wegzeichenprojekt“: Ein Sommerlager, bei dem Jugendliche aus Weißrußland, Polen, Tschechien und der Bundesrepublik aus Lehm und Beton zwölf „Stelen“, Gedenksteine, bauten. Seit dem 1. September 1999, dem Antikriegstag, markieren diese die Strecke des Todesmarsches von Lübeck nach Neustadt. Die auf dem Weg liegenden Gemeinden Lübeck, Bad Schwartau, Stockelsdorf, Ahrensbök, Glasau, Süsel und Neustadt haben Stelen aufgestellt.

Unter den Jugendlichen von Ahrensbök, weiß Pastor Schwer, heißen die Stelen „Judensteine“. Ein „Judenstein“ in Ahrensbök wurde kürzlich beschädigt. Barbara Braß, Vorsitzende der Gruppe 33 und Mitarbeiterin im örtlichen Jugendclub, kennt ihre Jungs und Mädchen zu gut, um sich darüber noch aufzuregen. Außerdem würden sich seither viele Jugendliche nach dem Sinn der Stelen erkundigen und neugierig nachfragen, was die Gruppe 33 eigentlich will. „Von daher hatte die Zerstörung der Stele auch etwas Gutes“, lacht sie.

Auch Schwer bestätigt, in der Gemeinde dominiere die Haltung, dass man sich dem Thema nicht mehr entziehen könne. Angst um seine Jugendlichen hat er dennoch manchmal. Zum Beispiel, als er sie vor drei Jahren prahlen hörte, dass sie „deutsche Jugendliche“ seien. Und als er daraufhin in der mecklenburgischen Partnergemeinde Grevesmühlen ein Jugendseminar zur Frage „was ist Deutsch“ veranstaltete und Andeutungen hörte, man wisse, wer die Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstrasse anzündete. Angst hatte er auch, als er Jungen und Mädchen aus Ahrensbök zu einem Treffen einlud und sie aufforderte, ihre Sachen mitzubringen, Embleme, Sticker, Musik. Und ein Mädchen fragte: „Die Waffen auch?“

Zitat:

Als Pastor Schwer der Konfirmandin erklärte, dass Jesus Jude war, rief sie: „Was macht der scheiß Jude in unserer Bibel?“

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