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Zehn Jahre falsch gewählt

Zur ersten freien DDR-Volkskammerwahl am 18. März 1990 Gedenken im Deutschen Bundestag am 17. März 2000: Der Abgeordnete Kohl ist wieder da und erhält Applaus. Stefan Heym kritisiert im taz-Gespräch die Aufarbeitung der Vergangenheit

BERLIN taz ■ Zehn Jahre nach der allerletzten und zugleich allerersten demokratischen Wahl zur DDR-Volkskammer ist „Einheitskanzler“ Helmut Kohl gestern nach Monaten Abwesenheit wieder im Deutschen Bundestag erschienen. Bei einer Feierstunde würdigte die Ex-Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) den Abgeordneten Kohl als einen „Architekten der Einheit“. Die Abgeordneten spendeten längeren Beifall. Kohl war nicht zu Tränen gerührt.

Keinen Applaus aus den Reihen der CDU/CSU erhielt dagegen der ehemalige Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann (Grüne), der mit deutlicher Anspielung auf Kohl die Frage aufwarf, ob es denn irgendeinen Grund dafür geben könne, dass ein Abgeordneter das Gesetz oder die Verfassung nicht zu achten bräuchte.

Keinen Beifall spenden will auch der ehemalige PDS-Abgeordnete und Alterspräsident des Bundestags, Stefan Heym. Im taz-Gespräch stellte der Schriftsteller die herrschende Aufarbeitung der Vergangenheit grundsätzlich in Frage: „Die Aufarbeitung kann nicht erfolgen, indem sich der Westen hinstellt und sagt, die DDR war ein Unrechtsstaat.“ Es seinen den Ostdeutschen zu viele „Slogans, falsche Anschauungen, falsche Leitartikel“ aufgedrängt worden, so der Schriftsteller. Deshalb könnten die Menschen nicht „korrekt nachdenken und selber feststellen, woran es gelegen hat, dass alles so kam, wie es kam“.

Einen wesentlichen Grund für das Scheitern einer Alternative zur Vereinigung sieht Heym in der „psychologischen Kriegsführung des Westens“. Die Losung „Wir sind ein Volk“ sei vom Westen gesteuert gewesen.

Bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 hatte die von Kohl massiv unterstützte „Allianz für Deutschland“ aus Ost-CDU, DSU und dem Demokratischen Aufbruch 48 Prozent erhalten. Damit war der Weg zur deutschen Einheit vorgezeichnet. klh

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