: „Die Innenverwaltung handelt überzogen“
Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, kritisiert Zwangsuntersuchungen von Flüchtlingen. Er fordert Polizeiärzte zum fachlichen Austausch auf
taz: Herr Jonitz, wie beurteilen Sie die Praxis der Innenverwaltung, traumatisierte bosnische Kriegsflüchtlinge generell vom Polizeiärztlichen Dienst (PÄD) begutachten zu lassen, obwohl Atteste von niedergelassenen Ärzten und Psychologen bereits vorliegen?
Günther Jonitz: Das ist überzogen. Sinnvoll ist ein Zweitgutachten, wenn im Einzelfall Zweifel an dem ursprünglichen Gutachten bestehen. Wenn es aber generell Kritik an den Gutachten einzelner Ärzte gibt, dann wäre die Ärztekammer der Ansprechpartner. Doch davon hat die Innenverwaltung noch nie Gebrauch gemacht.
Eine vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Gutachten der Polizeiärzte unter medizinisch-psychologischen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbar sind und nur im politischen Kontext, der die Durchsetzungen von Abschiebungen fordert, Sinn machen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Fest steht, dass der Polizeiärztliche Dienst häufig zu anderen Ergebnissen kommt und posttraumatische Belastungsstörungen, die ein anerkanntes Krankheitsbild sind, nicht anerkennt. Das ist zuerst mal ein fachlicher Disput, der geklärt werden muss. Einem Gepräch zu diesem Krankenheitsbild, das die Ärztekammer dem PÄD vorgeschlagen hat, verweigert die Innenverwaltung aber ihre Zustimmung.
Drängt sich hier nicht der Verdacht auf, dass die Innenverwaltung an einem solchen fachli-chen Austausch kein Interesse hat?
Wenn sich die Innenverwaltung auf einen fachlichen Austausch nicht einlässt, setzt sie den PÄD dem Vorwurf aus, dass er vorsätzlich Gefälligkeitsgutachten im Sinne der Innenverwaltung ausstellt und kein Interesse an der Fortentwicklung seines ärztlichen Fachwissens hat.
Was muss aus Sicht der Kammer jetzt passieren, damit es nicht bei dem gegenseitigen Vorwurf von Gefälligkeitsgutachten bleibt?
Die Innenverwaltung muss sich dem medizinischen Austausch stellen. Wenn der PÄD Probleme mit einem Gutachten hat oder zu einem anderen Ergebnis kommt, müsste eine Schiedsstelle eingeschaltet werden. Sinnvoll wäre es auch, wenn nicht Polizeiärzte, sondern zum Beispiel Amtsärzte oder Gerichtsmediziner in den strittigen Fällen Zweitgutachten erstellen würden. Sie stehen gar nicht erst in dem Verdacht, im Sinne der Innenverwaltung zu handeln. Interview: SABINE AM ORDE
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