Alles neu machtder Mai?

Während der deutsche Aktienmarkt boomt, die hiesige Wirtschaft sich rasant wandelt, verliert der einst machtvolle Deutsche Gewerkschaftsbund stetig an Mitgliedern und Relevanz. Man habe die gesellschaftspolitischen Entwicklungen verpasst, heißt es selbstkritisch. Wenn in der kommenden Woche die Friedenspflicht bei den Tarifverhandlungen in der Metallindustrie endet, rückt die IG Metall mit Warnstreiks wieder in die Schlagzeilen. Eine Bestandsaufnahme vor den Kämpfen aus der ostfriesischen Provinz

von HEIKE HAARHOFF

Es ist kein ermutigender Start, um über den Zustand der Gewerkschaft zu sprechen. Das Hans-Susemihl-Krankenhaus, 850 Beschäftigte, drittgrößter Arbeitgeber in Emden, hat soeben die Ergebnisse der Personalratswahl bekannt gegeben. Die ÖTV hat hier schon vor Jahren die Mehrheit zugunsten einer Freien Liste verloren. Aber das ist nicht das Schlimmste. „Fünfzig Prozent Wahlbeteiligung.“ Ralf Pollmann wiederholt laut, was ihm am Telefon durchgegeben wird, sieht aus, als erfahre er die Diagnose einer tödlichen Krankheit, legt auf. „Nur fünfzig Prozent“, sagt er, „dabei geht es hier doch um Demokratie.“

Pollmann erinnert sich, dass er Besuch hat, stellt sich als ÖTV-Kreisgeschäftsführer Ostfriesland vor und bittet sein Gegenüber, sich auszuweisen, „ich möchte ja nicht in einer Scherzsendung über Ostfriesen auftauchen“.

Oder über Gewerkschafter. Witze, Vorurteile und Häme über beide gibt es gleichermaßen; die über Gewerkschafter sind zumeist böser. Ralf Pollmann will es gar nicht bestreiten: Ja, die Gewerkschaften verlieren stetig Mitglieder und damit gesellschaftlichen Einfluss. Ja, ihre Strukturen gelten als verkrustet, ihr Führungspersonal als veraltet, ihre Konzepte als weltfremd oder nicht finanzierbar. Und er muss rechtfertigen, vermitteln, zurechtrücken, überzeugen – seit einem knappen Jahr. Damals rückte Pollmann an die Spitze von neuntausend ÖTV-Mitgliedern im nordwestlichsten Bezirk Deutschlands. Wenn man es positiv ausdrückt, dann ist dieser Job eine Herausforderung.

Denn es ist eine Sache, zu erkennen, dass die Individualisierung zunimmt und dass der Automatismus, mit dem Einstieg ins Berufsleben auch Gewerkschafter zu werden, abnimmt. Eine andere ist es, in Emden, was in Westdeutschland liegt, aber mit 16,8 Prozent eine Arbeitslosigkeit wie Ostdeutschland hat, als ÖTV-Mann in die Krankenhäuser, die Verwaltungen zu gehen.

„Neueinstellungen gibt es fast nur noch befristet, das steht gewerkschaftlichem Engagement entgegen.“ Private ambulante Pflegedienste gar lehnten zunehmend „jegliche Tarifgebundenheit ab“. Und wenn nicht, „dann gelingt es uns zwar, die Gehälter zu erhöhen, aber weil die Budgets das nicht hergeben, gibt es indirekt trotzdem Personalabbau“. Er könnte auch sagen: Wofür ich dort werbe, hat mit der Lebenswirklichkeit der Beschäftigten wenig zu tun. Aber das hieße aufgeben, und dafür ist Ralf Pollmann, 45, zu jung.

In Krisenzeiten, sagt er, braucht man Experten. Also hat Pollmann zu Beginn dieses Jahres die bisher eigenständigen ÖTV-Kreisverwaltungen Wilhelmshaven und Emden zusammengelegt. Zeit für doppelte Verwaltungsarbeit soll zugunsten von Beratung und Fortbildung eingespart werden. Die internen Widerstände müssen erheblich gewesen sein. Wenn Pollmann, eher zierlicher Statur, von „unserer Umstrukturierung“ spricht, dann sieht er aus, als habe er vor Monaten einen Acker gepflügt und leide seitdem unter chronischem Muskelkater. „Es macht keinen Sinn, dass zwei Gewerkschaftssekretäre auf einer Veranstaltung sitzen und das Gleiche sagen, wenn einer von beiden in einem Betrieb mit null Organisationsgrad sitzen könnte.“ Er blickt durch den Raum wie nach einem Halt. „Es sind Suchbewegungen, die man da macht.“

Zu dritt sitzen sie im Pförtnerhäuschen. Ist schließlich ein großes Werkstor, das es da zu bewachen gilt. „Moin.“ Wer den Gruß überhört, dem schallt es mit Nachdruck hinterher: „Moooiin!“ So viel Zeit muss sein.

So viel Zeit ist immer. Hinter dem Eingang zum VW-Werk beginnt für zehntausend Fließbandarbeiter, Schlosser, Kfz-Mechaniker und Sekretärinnen eine Welt, „die kannste ruhig Schlaraffenland nennen“, sagt Enno Jakobs. Morgens um halb neun kommt der Kaffee, am Fenster erinnert der DGB an „Dein Recht: Bildungsurlaub“. Enno Jakobs ist bester Laune. Nächste Woche wird er in San Francisco sein. Die IG Metall, seine Gewerkschaft, wird zu dieser Zeit mit ihren Warnstreiks beginnen: Die Friedenspflicht bei den Tarifverhandlungen läuft am 28. März ab. Aber auch ein Betriebsrat muss mal seinen Resturlaub nehmen. Außerdem ist Volkswagen nicht im Arbeitgeberverband, weswegen der VW-Haustarifvertrag nie zeitgleich mit den Flächentarifverträgen ausgehandelt wird. „Ein Riesennachteil“, findet Enno Jakobs. „Wir sind die größte Bude, aber mitstreiken dürfen wir nicht.“

Was nicht heißt, dass Enno Jakobs, 52 Jahre, seit 1981 Betriebsrat, seit ebenso langer Zeit freigestellt, untätig gewesen wäre: Viertagewoche, 28,8 Stunden Arbeitszeit für alle. Flexible Arbeitszeiten, „klar, aber kostet natürlich Zuschläge“. Die Hälfte der Belegschaft hat es zu einem Eigenheim gebracht. Weil alles erreicht ist, zumindest für die, die es bis hinters Werkstor geschafft haben, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass es anders werden könnte oder anderswo längst ist. Mitgliederschwund? „Halte ich für ein Gerücht“, sagt Enno Jakobs, „bei uns sind 98 Prozent organisiert. Sorgen machen mir nur die Banken, diese ganzen Fusionen.“ Gibt es einen Ausweg? „Früher gab’s statt Konten Lohntüten, und hätten wir die noch, wären auch die Banken nicht so mächtig.“

Wer hier arbeitet, hat in der Regel dicke Arme, Mann und Kinder und Haushalt und keine Lust auf Streit mit dem Arbeitgeber. Trotzdem hat sich Andrea Janssen, 24, überreden lassen, Betriebsrätin zu werden. „Eine musste es machen“: Die 280 Frauen, die bei dem VW-Zulieferer Dräxlmaier am Band stehen und Cockpitkabel wickeln, arbeiteten im Akkord, erhielten aber nur Zeitlohn; Pausen wurden nicht bezahlt. Inzwischen gibt es Prämien. Immerhin. Ein Haustarifvertrag wäre schön, muss aber nicht unbedingt sein, sagt Andrea Janssen, die Gewerkschafterin.

Die Zusage, keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen, gilt nur bis Jahresende. Da ist es egal, was die Funktionäre nächste Woche auf ihre Transparente schreiben. „Um Gottes willen, es geht uns nicht um die gleichen Löhne wie bei VW.“ Mit den Krankenkassen will Andrea Janssen jetzt Gymnastikkurse für die Frauen am Band organisieren. „Wenn wir das schaffen, haben wir viel erreicht.“

„Dass das alles hier nur belächelt wird, will ich nicht sagen.“ Dennoch mag Matthias Dieken in kein Megaphon rufen, dass die Ausbeutung durch das Kapital ein Ende haben muss. „Bringt alles nichts“, ist die Erfahrung des 34 Jahre alten Betriebsrats bei der Autozuliefererfirma Oltmanns. „Man braucht Courage, dem Chef zu sagen, wo was schief läuft, aber dazu braucht man nicht die Gewerkschaft. Für unsere dreißig Beschäftigten haben wir auch so den Tarifvertrag durchgesetzt.“

Benedikt Jeckel ist das Gemaule leid. Vor allem, wenn es von der „Milupa-Generation“ kommt. „Von allem profitieren wollen, was wir erreicht haben, aber uns gleichzeitig für überflüssig erklären.“ Uns, die Gewerkschaft, seine IG Metall, die Organisation, der er die Hälfte seines 52-jährigen Lebens die Treue gehalten hat, fast länger als seiner Frau.

„Wir haben uns verändert“, protestiert Jeckel, noch bevor die Frage gestellt ist, und wenn das keiner merke, dann, weil sich die Leute nicht interessierten. Beispielsweise für sein Bücherregal im Betriebsratsbüro der Firma Omag, deren 225 Mitarbeiter Maschinen zum Zuschneiden von sechseckigen Rasenkantsteinen produzieren. Steht da etwa das Betriebsverfassungsgesetz in vorderster Reihe? Nein, denn juristische Fragen und Gehaltsstreitigkeiten, „das ist heute ein Anruf, dann ist das erledigt“.

Stattdessen studiert Benedikt Jeckel Wirtschaftsratgeber, Handbücher über Marketing, internationale Betonfachzeitschriften. „Wenn ich da lese, dass eine konkurrierende Firma in China Fuß gefasst hat, dann frage ich mich, Mensch, wieso wir nicht.“ Die neue Aufgabe des Betriebsrats sei, „wie ein zweiter Manager“ zu agieren. „Früher hatten wir viel zu viel Vertrauen in die Arbeitgeber“, sagt Jeckel, „aber da war die Arbeitslosigkeit auch noch nicht so hoch.“ Es gehe darum, wirtschaftliche Zusammenhänge zu begreifen, Bilanzen lesen zu können. „Denn dass du morgens zur Firma kommst und an der Tür steht ,Geschlossen wegen Konkurs`, das hat ja eine Vorgeschichte.“

Sie haben ihre Ohrläppchen dreifach durchstochen, sich die Schädel rasiert und blond gefärbt, und es scheint, als seien die Sätze, die da aus ihren Mündern kommen, nicht ihrem eigenen Wertesystem entnommen: Von der Sorge, „dass unsere Auszubildenden auch ihren Berufsschulunterricht kriegen“ ist die Rede und davon, dass Werkzeugmechaniker, die während der Ausbildung zum VW-Werk nach Ingolstadt müssen, sich nicht selbst um eine Unterkunft kümmern sollen müssten. – Es solle bloß niemand sagen, den Gewerkschaften gehe die Jugend verloren, hatte die Erste Bevollmächtigte der IG Metall gedroht. Nun sitzen zwei ihrer Vertreter also da, Didi Mühlen und Ralf Alwin, beide knapp über zwanzig, im besten Alter, eine fremde Sprache zu lernen. „Die IG Metall hat alles richtig gemacht.“ – „Es lohnt sich, für die Rente mit sechzig zu kämpfen.“ – „Noch weniger arbeiten können wir nicht verlangen.“ – „Unser Ziel ist, den Level aufzuhalten.“ Bedingungslose Folgsamkeit, wie sie sonst nur Fußballfans ihren Stars entgegenbringen: bar jeder Ironie, bar jeden Zweifels. In der Schule in Emden, sagt Didi Mühlen, gilt ein Ausbildungsplatz bei VW immer noch als Goldgrube. Also kann nicht ganz falsch sein, woran die Kollegen dort so glauben.

Manchmal verlässt Wübbe Murra der Mut. Wenn sie vor ihm stehen, junge Kollegen, ausgelernt und mit der festen Zusage in der Tasche, dass es auf der Cassens-Werft keinen Job mehr für sie gibt, weil die Schiffbaukrise international ist und es auch in Emden kaum noch Aufträge gibt. Er könnte ihnen raten, es bei einer Zulieferfirma zu versuchen. Oder über seine informellen Kontakte einen Zeitvertrag anderswo besorgen. „Aber guten Gewissens kann ich das nicht machen.“ Denn was dort geboten wird, Überstunden ohne Zuschlag und schlechtere Löhne sowieso, widerspricht allem, was in jahrzehntelanger Betriebsratstätigkeit zu Murras Glaubensbekenntnis wurde. „Wenn ich der Jugend keine Perspektive gebe, dann bin ich daran schuld, dass ich sie verliere“, sagt er, und es ist nicht sicher, ob die Stimme bloß heiser ist.

Das Problem, räumt Murra ein, liege auch bei den Gewerkschaften: „Das Kapital hat sich längst internationalisiert, und das haben die Gewerkschaften verpasst.“ Deshalb hinkten sie häufig hinterher, deshalb beschränke sich ihr Aktionsradius „auf reine Abwehrmaßnahmen“.

Wie soll man unter solchen Bedingungen noch mobilisieren, fragt sich Bernhard Meyer von der Thyssen-Nordseewerft, dem zweitgrößten Arbeitgeber. „Es wird immer schwieriger, die nötige Bereitschaft bei den Mitgliedern zu finden, für unsere Ziele auf die Straße zu gehen.“ Ob überzogene Forderungen das richtige Mittel sind, fragt er sich nicht. Ob die Straße noch der richtige Ort ist, auch nicht. Und so erkennt er verwundert: „Ganz unbeliebt sind die kleinen Aktionen, ’ne halbe Stunde Arbeitsniederlegung oder diese kleckerweisen Warnstreiks, die wollen sie nicht, sondern lieber gleich Urabstimmung, dann Streik.“

Faulheit kann man Regina Allemann schwerlich vorwerfen. Von früh bis spät ist die Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Emden unterwegs von und zu Mitgliedern; 17.000 sind es in ihrer Region, eine stolze Zahl, und im Gegensatz zum Bundestrend hat es in Emden sogar leichte Zuwächse gegeben. „Wir sind eben gut“, sagt die 46-Jährige. Dass in Emden mit seiner Stahlbauindustrie schon immer traditionell mehr IG-Metaller organisiert waren als anderswo, dass sich in einer strukturschwachen Region und arbeitsmarktzeitlichen Notlagen wie diesen vor allem diejenigen den Gewerkschaften zuwenden, deren Job akut bedroht ist, sagt sie nicht. Stattdessen: „Die Leute wissen, was sie an uns haben.“ Wer Zweifel hat, wird barsch zurechtgewiesen. „Die Leute sind mobilisierungsfähig, auch wenn man das so deutlich nicht spürt.“ Aha.

Schließlich sei die IG Metall auf dem besten Weg zu einem „modernen Dienstleistungsunternehmen“. Zehn Jahre nach der Internetrevolution verfügen alle Sekretäre neuerdings über E-Mail-Anschlüsse, es gibt Rufumleitung und Handys. „Wir sind ständig erreichbar“, sagt Regina Allemann, und auch der Draht zur sozialdemokratischen Regierung, beteuert sie, sei nicht der schlechteste. Zwar gebe es Streit mit den einst Verbündeten um die Rente mit sechzig, zwar lasse die Ausbildungsabgabe weiterhin auf sich warten, aber, sagt sie mild: „Die Richtung stimmt.“

Und das nächste Etappenziel steht auch fest: „Vernetzung“, sagt Regina Allemann und meint Nachbarschaftshilfe zwischen Gewerkschaftern und Geringverdienern. „Ich stelle mir das so vor, dass wir auch Rat geben, wo man die günstigste Waschmaschine kriegt.“

HEIKE HAARHOF, 30, ist Reporterin der taz und war mehrere Jahre Betriebsratsvorsitzende der Hamburg-taz