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Ready for Take off

■ Dem Bremer Moks-Theater ist mit seiner Inszenierung „Kleine Engel“ eine ganz wundervolle, sehr stille Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeitslosigkeit gelungen

ine einzige Feder schwebt langsam vom dunklen Himmel. Eine weiße Feder, nicht mehr. Doch von einem Moment auf den anderen gebärden sich Rocco und Assunta wie irr, hüpfen mit hochroten Gesichtern unter der Straßenlaterne herum, rufen, schreien, betteln, winseln, um nach wenigen Minuten ermattet zu Boden zu sinken. Zurück bleiben zwei Menschen, die sich für einen Augenblick um die Fassade nicht scherten und schutzlos ihre unstillbare Sehnsucht zu Markte trugen. Zurück bleiben aber auch die beschämten ZuschauerInnen der neuen Moks-Inszenierung „Kleine Engel“, denen unvermittelt vor Augen geführt wird, dass ein ständiges Leben im sozialen Abseits zutiefst entwürdigend sein kann.

Denn erst wenn man rein gar nichts mehr hat, werden selbst die Engel mitsamt ihren weißen Federn zum letzten Hoffnungsschimmer. Rocco (Herrmann Book) hat keine Arbeit, keine Wohnung. In seinem Bauch knurrt es seit Tagen gewaltig. Und das Wenige, was der Ex-Dreher noch besitzt, trägt er bei sich: eine kaputte Hose, eine schmutzige Jacke und einen Beutel, in dem ein nagelneuer blauer Arbeitsanzug hoffnungsfroh darauf wartet, mit Öl- und Dreckspuren von einer Drehbank überzogen zu werden. Mit ihm unter einer hell leuchtenden Straßenlaterne steht Assunta (Christine Ochsenhofer). Assunta ist Putzfrau, ohne Job, ohne Geld, aber mit ausgeprägter Berufsehre. Wo andere viermal wischen, wischt sie noch einmal mehr. Sie weiß, dass sie gut ist. Aber sei weiß ebenso wie Rocco, dass das auf Erden niemanden interessiert.

Bleibt der Himmel. Denn dort werden gute Leute in der Wolkenfabrik gesucht. Zumindest hat das der seltsame Mann im Mantel erzählt, dem die beiden ihren letzten Besitz geschenkt haben, damit er ihnen verrät, wo die Engel die Arbeitssuchenden abholen. Nun stehen sie da unter der Laterne und warten, ready for take off.

Doch nichts passiert. Kein Engel in Sicht. Eine kleine Feder fällt herab, das war's. Doch was von oben ausbleibt, geschieht stattdessen auf der kärglichst eingerichteten Bühne (Erhard Dapper, Dieter Förster) – eine Laterne, eine Hecke und eine bis zur Decke reichende weiße Stoffbahn. Rocco und Assunta erzählen sich: Davon, wie es wäre, Geld zu haben. Was es wohl für ein Gefühl sein muss, die Liebste bedenkenlos auf ein Eis einladen zu können. Und sie erzählen von jener bedrückenden Ruhe, die all die arbeitsamen Menschen in der großen Stadt erzeugen, aus der sie lärmend und störend herausfallen.

Klaus Schumachers Vertrauen darauf, dass solche stillen, kleinen, sehr persönlichen Geschichten die ZuschauerInnen dennoch in den Bann zu schlagen vermögen, ist grenzenlos. Denn der Regisseur von „Kleine Engel“, das auf einem prämierten Theaterstück des italienischen Autors Marco Baliani basiert, verzichtet konsequent auf vieles, womit das klassische Kindertheater sonst um die Gunst des jugendlichen Publikums buhlt: Keine Schüttelreime, keine zuckersüße Musik, keine Gimmicks, kaum Slapsticknummern und ein allenfalls spröder Appell an die bergeversetztende Macht der Phantasie. Stattdessen steht eine lebenshungrige junge Frau auf der Bühne, die sich hartnäckig weigert, sich der Trostlosigkeit zu ergeben. Und an ihrer Seite steht ein junger Mann, der zunächst mutlos und im Verlauf des Zusammenseins mit Assunta immer mutiger darum ringt, sich von der eigenen Trostlosigkeit nicht jedes Glücksgefühl rauben zu lassen.

Warum Menschen arbeitslos werden, erzählt „Kleine Engel“ nicht. Aber was Arbeitslosigkeit für den Einzelnen bedeutet, davon erzählt das poetische, zarte Stück sehr viel. Und es kann dabei mit Herrmann Book und Christine Ochsenhofer auf zwei ganz wunder-, wunder-, wundervolle SchauspielerInnen vertrauen, die mit ihrer Ausstrahlung von Anbeginn an die Bühne erfüllen und dank ihrer darstellerischen Qualitäten in jedem Augenblick die so schwierige Balance zwischen Sentimentalität, Traurigkeit und jenen kurzen Momenten des Glücks halten.

Am Ende hat sich kein Engel blicken lassen. Und doch: Blind muss sein, der nicht sieht, dass da plötzlich auf der Moks-Bühne etwas sehr Schönes „gewachsen“ ist, was zu Beginn der traurig-schönen Geschichte zwischen Assunta und Rocco noch nicht gewesen ist.

Franco Zotta

Weitere Vorstellungen von „Kleine Engel“: heute bis 31. März jeweils um 10.30 Uhr sowie 30. März, 2. April und 27. April jeweils um 15 Uhr. Infos und Karten gibt es unter Tel.: 365 33 33 oder im Moks-Sekretariat unter Tel.: 361 61 81

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