: Die Kälte neolinker Kritik
Kommende Woche hält die PDS in Münster erstmals in ihrer Geschichte einen Parteitag in einer westdeutschen Stadt ab. Im Mittelpunkt aller Debatten steht hintergründig immer die Frage: Wie halten wir es als Sozialisten mit dem Kapitalismus? Ein heimlicher Bestseller in der linken Szene könnte die nötigen Argumente liefern, um die PDS auf fundamentalistischen Kurs zu bringen: „Das Schwarzbuch des Kapitalismus“ von Robert Kurz. Generalkritik eines PDS-Reformers
von ANDRÉ BRIE
Wer in jener Linken, die ihre Daseinsberechtigung primär von der Verteidigung der Sowjetunion und der DDR abhängig macht, darauf gehofft haben mag, Robert Kurz’ „Schwarzbuch des Kapitalismus“ sei eine Antwort auf das „Schwarzbuch des Kommunismus“, wird bitter enttäuscht. Der Autor versucht zwar den Werbeeffekt des Titels zu nutzen, aber er ist der Versuchung entgangen, ein Antischwarzbuch für den Sozialismus zu schreiben oder sich an den unsäglichen Aufrechnungen der Ermordeten, Verhungerten, Vertriebenen und anderer Verbrechen der einen gegen die der anderen Seite der epochalen Auseinandersetzung zu beteiligen.
Der Autor wendet sich ganz und gar der Geschichte der drei industriellen Revolutionen und der Marktwirtschaft zu, die für ihn identisch ist mit dem Kapitalismus. Da er den osteuropäischen Staatskommunismus als Ergebnis „der verhausschweinten Arbeiterbewegung“ sieht (ein Begriff, den er öfters verwendet) und als „Fleisch vom Fleische der fordistischen Zweiten industriellen Revolution im Kontext einer ‚nachholenden Modernisierung‘ und ‚ursprünglichen Akkumulation‘ des Kapitalismus“, ist es nur folgerichtig, dass sein „Schwarzbuch“ auch den Staatssozialismus einschließt, den Kurz als staatskapitalistische Gesellschaft begreift. Mit einer Einschränkung: Ein „uneingelöstes Moment“ sei in ihr enthalten geblieben – die Vorstellung des „anderen“ Marx: die Kritik „des modernen Fetischismus von ‚abstrakter Arbeit‘ und selbstzweckhafter ‚Verwertung des Werts‘“.
Ansonsten ist Kurz schonungslos: „Der Osten war von Anfang an keine historische Alternative, sondern immer nur eine gröbere, eher mickrige und auf halbem Weg steckengebliebene Billigversion des Westens selbst.“ Ursache dieser Wesensgleichheit war nach Kurz eben die Nichteinlösung des „anderen“ Marx, die nicht mal versuchte Überwindung des Fetischcharakters der Ware Arbeit, die Dominanz der abstrakten Arbeit und ihre verwertete Verselbstständigung. Hier sieht Kurz auch die Wurzeln dafür, dass der sowjetische Staatssozialismus terroristisch werden musste: „Was da ,hinausgesäubert‘ werden sollte, war der innere Widerspruch der in gesellschaftlichen Riesenschritten durchgesetzten ,abstrakten Arbeit‘ (und der mögliche theoretische Einspruch dagegen). Dafür war die Mobilisierung des antisemitisch-antiintellektuellen Syndroms geradezu unerlässlich.“
Mir ist die Kurzsche Kritik des Staatssozialismus zu pauschal, und die geschichtliche Alternativlosigkeit, die er hier wie in vielen anderen Zusammenhängen behauptet, teile ich ohnehin nicht. Aber in dieser Frage berührt er tatsächlich das entscheidende Problem einer nichtkapitalistischen Produktions- und Lebensweise, das im sowjetischen Staatssozialismus nicht wirklich gelöst wurde. Vor allem jedoch des Autors Kritik an Marx, liberales und aufklärerisches Gedankengut nicht konsequent überwunden zu haben, führt zur entscheidenden Differenz, die ich mit ihm, diesem Buch und einigen programmatischen Stellungnahmen in der PDS habe.
Die Sowjetunion und die DDR sind nicht nur daran gescheitert, dass sie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach deren Spielregeln von Wachstum, Wertgesetz, Wettbewerb und Konsum hinterliefen wie der Hase dem Igel, sondern ausgerechnet dort, wo es der zivilisatorischen Kontinuität oder der Einlösung (und Weiterentwicklung) bürgerlicher Ansprüche bedurft hätte, den vollständigen gesellschaftlichen Bruch postulierten und vollzogen: Gewährleistung der individuellen und politischen Freiheiten, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie wurden auf ihre kapitalistischen Herrschaftsformen reduziert und galten als reaktionär.
Kurz würde einem solchen Gedanken bestenfalls mit Hohn begegnen, gelten ihm – wie früher der SED – diese Institutionen doch als Ausgeburten des Liberalismus. Aber er geht noch viel weiter. Für ihn ist die bürgerliche Aufklärung nicht nur Ausgangspunkt und Ursache für die „Verhausschweinung“ der Arbeiterbewegung, sondern direkt und mehr als alles andere verantwortlich für die größten kapitalistischen Verbrechen, insbesondere die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden durch den deutschen Nationalsozialismus.
An diesem Punkt wird das Buch meiner Meinung nach zum Skandal: Bei Kurz gibt es erstens keine Geistes- und Zivilisationsgeschichte, kein Werden und Sich-Entwickeln von Kultur und Denken. Fichte, Kant, Herder, Darwin, natürlich Uhland und Rilke, gelegentlich auch Marx und Engels, werden nicht zeit- und ideengeschichtlich bedingt betrachtet, sondern zu den Urhebern völkischen, rassistischen, antisemitischen, biologistischen und nationalistischen Denkens erklärt. Von Darwin wird der Weg zum nazistischen Euthanasieprogramm gezogen, von Gramsci zu Mussolini und zum Sozialdarwinismus, von Habermas zu Nolte, von Kant zum Rassismus der Nazis, von Herder zur völkischen Blut-und-Boden-Ideologie. Der militärisch belagerten Pariser Kommune wirft Kurz einen Nationalpatriotismus vor, den er mit der Symbolik des deutschen Chauvinismus charakterisiert („Ruf wie Donnerhall“).
Bebels zu seiner Zeit bahnbrechendes Buch „Die Frau und der Sozialismus“, zeige „die Eselsohren der biologistischen Ideologie“. Rosa Luxemburg und Clara Zetkin seien ebenfalls „Mittäterinnen“ der biologistischen Ideologie, die sozialistische Bewegung habe mit ihrer Orientierung auf die Arbeit das „Einfallstor für Biologismus, Rassismus und Antisemitismus“ geschaffen. Nahezu die gesamte bürgerliche und proletarische Kultur- und Geistesgeschichte ist für Kurz in erster Linie Wegbereitung des Nationalsozialismus, seiner Ideologie und Verbrechen. Eigenartigerweise bleiben nur Heine, Adorno und Horckheimer ausgenommen.
Zweitens. Seine vehementen und ehrlichen Versuche, die Singularität von Auschwitz darzustellen, verlieren auf diese Weise ihre theoretische Grundlage. „Marktwirtschaftsdemokratien“ und Diktaturen sind für ihn nicht mehr als jeweilige besondere Erscheinungsformen des liberalen Kapitalismus: „Aus dieser negativen, kritischen Perspektive kann besonders Auschwitz nur als die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie verstanden werden.“ Mit sicherlich entgegengesetzten Vorzeichen, aber dafür noch vollständiger fatalistisch erweist sich Kurz als Anhänger der Tina-Ideologie (Margaret Thatcher: There is no alternative!). Mit bestürzendem Mangel an Differenzierungsvermögen und Genauigkeit muss Kurz schließlich sogar die gerade behauptete Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen in Abrede stellen. Alles ist ihm eins: „Insofern war die beginnende staatsökonomische Krisenpolitik des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt im Prinzip aus demselben Holz geschnitzt wie die sowjetische und nazideutsche.“
Kurz’ „analytische“ Methode lebt von einer fragwürdigen und gefährlichen Reduzierung auf jeweils ein Prinzip, eine Seite, eine Erscheinung. „So allein deshalb“, „nichts mehr als“ oder „nichts als“ sind seine bevorzugten Beschreibungen: „Das ‚freie‘ demokratische Nachkriegsindividuum ist nichts als das von der politisch-militärischen Maschine genormte und gepresste ,Exemplar‘, das nur losgelassen wurde.“
Drittens führen Kurz diese Kultur und ein Antikapitalismus, der nicht das Selbstbewusstsein einer souveränen Kritik besitzt, sondern sich nur durch Superlative, Katastrophenszenarien, Reduktion, Verabsolutierung legitimiert sieht, zu Einschätzungen, die letzten Endes weniger eine scharfe Auseinandersetzung mit heutigen sozialen und anderen Problemen des Kapitalismus als eine faktische Bagatellisierung faschistischer Verbrechen bedeutet: Die bundesdeutschen Altenheime nähmen „KZ-ähnlichen Charakter an“, bei den weltweit sieben Millionen jährlich verhungernden Kindern handele „es sich um den alljährlichen marktwirtschaftlich-demokratischen Kinderholocaust“. Ähnlich verantwortungslos ist die Geißelung von Obdachlosigkeit, Kinderarmut und Ausgrenzung von ImmigrantInnen mit dem Bild eines „demokratischen Gulag“. Makaber auch, aber in mancher Hinsicht folgerichtig, dass bei Kurz die vorkapitalistischen Zustände sich wie ein soziales Idyll ausnehmen.
Es gibt in diesem „Schwarzbuch“ einige interessante und für die moderne Kapitalismuskritik produktive Ansätze. Marx’ Analyse der abstrakten Arbeit, der Verselbstständigung verwerteter Arbeit und ihres Fetischcharakters wird von Kurz zu Recht in den Mittelpunkt dieser Kritik gestellt. Anregend sind die Auseinandersetzungen mit dem Kasinokapitalismus, dem strukturellen Charakter moderner Arbeitslosigkeit oder der Krise der „Nationalökonomie“. Wenig davon wird jedoch gründlich erörtert, selten etwas empirisch fundiert.
Ein „Schwarzbuch des Kapitalismus“, das nicht nur beschreibend bleiben will, hätte aber die Aufgabe, zu analysieren, ob die Krisen, Defizite und Verbrechen, die den Kapitalismus von seinen Anfängen bis heute begleiten, „systembedingt“ und nicht nur Fehler in spezifischen Entwicklungsstadien sind. Ob also Kriege, die er führte und führt, ob die Zerstörung von Lebensperspektiven so vieler Menschen durch Arbeitslosigkeit, Unterentwicklung und andere soziale Probleme seine notwendigen und sich verschärfenden Existenzbedingungen sind. Robert Kurz hat diesen Anspruch. Sein Buch trägt nicht nur den Untertitel „Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“. Es ist ganz und gar auf diesen Aspekt hin geschrieben. Doch seine Ambition löst der Autor mit solch analytischer Schlichtheit ein, dass er seinem Anliegen einen denkbar schlechten Dienst erweist. Dies und zudem seine – sprachlich zum Ausdruck kommende – leidenschaftslose Kälte in der Behandlung des Themas mögen ihre Attraktivität für jene besitzen, die nicht erfahren oder begriffen haben, wie sehr das Schwarzweiß- und das Lagerdenken mit der Zerstörung des emanzipatorischen Charakters der sozialistischen Bewegung verbunden waren.
Aber gegen das Elend kommt man nicht ohne Leidenschaft, Sensibilität und die Fähigkeit zur differenzierten Genauigkeit an. Ich mag die leidenschaftslose Analyse. Doch genau diese fehlt. Und ich mag die Leidenschaft im Kampf gegen Verbrechen und Krieg. Aber eben die fehlt auch. Die Grundthese seines Buches, „den Abgesang auf die Marktwirtschaft“, fasst Kurz selbst so zusammen: „Obwohl es die offiziellen Institutionen des Kapitalismus natürlich immer noch ableugnen, wird der Horizont einer neuen Systemkrise sichtbar, die alle bisherigen Transformationskatastrophen seit Beginn der Industrialisierung in den Schatten zu stellen verspricht. Unabweisbar stellt sich also die Frage nach der besonderen Qualität der dritten industriellen Revolution im Verhältnis zu den beiden ersten. Diese besteht, wie sich mit immer größerer Deutlichkeit zeigt, in einer gewissermaßen finalen Mobilisierung des kapitalistischen Selbstwiderspruchs.“
Ernst zu nehmen an seiner These ist, dass der Kapitalismus mit der „Dritten industriellen Revolution“ in ein Stadium eingetreten ist, dessen Wesensmerkmale durchaus Anlass geben, von einer möglichen Erschöpfung seiner Entwicklungs- und gesellschaftlichen Expansionsfähigkeit zu sprechen. Darüber wäre zu diskutieren, obwohl Lenins Theorie der allgemeinen Krise schon Anfang des 20. Jahrhunderts zu gleichen Schlussfolgerungen gekommen war, während der Kapitalismus seitdem eine ungeheure (auch ungeheuer zerstörerische) Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit gezeigt hat, auf die Marx und Engels im Übrigen ausdrücklich hinwiesen.
Ob diese ökonomische Entwicklungsfähigkeit tatsächlich an ihr Ende gekommen ist, wie Kurz meint, wird sich erweisen; dass sie die Grundlagen von Natur und Kultur zu zerstören droht, scheint mir gesichert. Alternativen, die in Kurz’ Buch jedoch nichts sagend bleiben, sind dringend erforderlich. Dass sie jedoch nicht nur den Bruch mit der Kapitaldominanz und ihren Konsequenzen, sondern den vollständigen Zivilisationsbruch bedeuten sollen, macht mir dieses Buch zu einem vollständigen Ärgernis. Ich habe keine Lust, Fehler zweimal zu machen, solche mit derart desaströsen Folgen schon gar nicht.
Keine Ahnung, ob die PDS Lust dazu hat. Eine Chance, ihr nachzugeben, würde ihr die Bevölkerung dieses Landes jedoch nicht geben. Auch das gehört zu den Vorzügen der Gesellschaft, die im Ringen um eine Alternative zu bewahren wären. Sie wird tatsächlich jenseits von Staatssozialismus und real existierendem Kapitalismus, aber niemals jenseits jahrhundertelanger zivilisatorischer Entwicklung, Denken und Institutionen liegen dürfen.
Robert Kurz: „Schwarzbuch des Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000, 816 Seiten, 68 Mark
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