: Meister der Peinlichkeit
Filme mit dem Fluidum des sozialen Lebens: Eric Rohmer zum 80. Geburtstag
Manchmal fängt man an zu schwärmen, um zu probieren, ob es lohnt. Auf meine Begeisterung für Rohmer antwortete mir Müller (Heiner), dass „wir damit nichts zu tun haben“. Rohmer behandele ausschließlich Probleme der „bürgerlichen Gesellschaft“. Seitdem war mir klar, dass mein Faible für Eric Rohmer eine ernste Sache war.
Einmal ging ich los, um einen Farbfernseher zu kaufen, weil für den Abend die Ausstrahlung von „Pauline am Strand“ auf dem Programm stand. Ich war ganz und gar eingestellt auf die Farben des Meeres im Sommer, die gebräunten Gesichter, die gehaspelten Gespräche und die Szene, in der ein geübter Charmeur versucht, Pauline aus dem Schlaf heraus zu verführen. Mit einem gewaltsamen Reflex im Zuge des Erwachens tritt sie ihm in der Weise vor die Brust, dass er an die gegenüberliegende Wand geschleudert wird. Natürlich hat er auch dann noch eine charmante Ausrede parat. Aber das Tennismatch von Boris Becker dauerte länger, und „Pauline“ fiel aus.
Es kann also sein, dass ich diese komplizierte Sequenz nicht ganz richtig in Erinnerung habe, und das gilt für fast jede Szene bei Rohmer, sobald seine Filme Mädchenfilme sind, ebenfalls. Es gibt eine kinematografische Ungenauigkeit darin, ein Fluidum, dessen Gegenteil für mich die bornierte Cadrage Pasolinis darstellt. Wenn es gilt, Vewandtschaften zu benennen, ist Woody Allen ein ernsthafter Kandidat, weil er ein vergleichbares Interesse an der Introspektion der Figuren aufbringt. Nur gibt es bei Rohmer nicht so viele lustige Dialoge, die man nacherzählen könnte. Es gibt lustige Dialoge, aber sie flattern davon wie Schmetterlinge.
Einen seiner Filme findet mein Lexikon „trotz des Dialogreichtums spannend und erheiternd“, was ja nichts als ein Vorurteil vom Filmemachen wiedergibt. Die Qualität Rohmers als Drehbuchautor liegt darin, dass er seinen Stil fest im sozialen Leben Frankreichs verankerte, aber diesen Stil nicht als Polemik gegen die Dominanz des amerikanischen Kinos instrumentalisiert. Rohmer hat dieses immense Ohr für die Rhetorik seiner Landsleute, und keineswegs nur die Gebildeten. Als lebender Zeitgenosse der 60er- und 70er-Jahre hat Rohmer – ob er wollte oder nicht – den Psychodiskurs entdeckt und ihm Platz eingeräumt. Das kann ein ernsthaftes Argument sein gegen seine narzisstischen Figuren. Aber es ist kein Argument gegen seine Filme.
Zur französischen Tradition gehört auch die enge Definition des Alltags, der Ehe und der großen Familie. Rohmer führt uns mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die nagelneue Suburbia mit ihren artigen Kästen aus Beton, wie er auf der Familiendatsche unter alten Bäumen Halt macht, wo an der großen Tafel alle wissen, was sich gehört, nur die junge unglückliche Frau nicht. Die Wahl seiner Locations, sein Umgang mit Licht ist exzeptionell. Man sieht ein Fenster am Abend und blickt schon ins Herz seiner Figur.
Die Ambivalenzen, denen seine Geschichten gelten, führen dazu, dass in der Erinnerung die Filme ineinander rinnen. Fest steht aber, dass die Bänder so lange geflochten werden, bis die Knoten sich lösen: Delphine, die von der Natur ein Zeichen haben will, sieht schlussendlich „Das grüne Leuchten“ (einen Effekt der über dem Meer versinkenden Sonne). Und Wesselrin, der den schrecklichen Monat August in Paris verbringt, um vergeblich an die Türen angeblicher Freunde zu klopfen, darf am Ende von „Im Zeichen des Löwen“ doch der Erbe sein, als der er sich anfangs schon gefeiert hatte.
Rohmer, obwohl er Hitchcock im Detail studiert und gepriesen hatte, wandte sich gegen das Glamouröse des Films; die Arbeit mit Laienschauspielern inklusive. Dabei berührte er oft die Grenze der Peinlichkeit. Wer das nicht kennt, muss sich erst einmal dran gewöhnen. Es ist eben bürgerliches Kino.
Geboren als Jean-Marie Maurice Scherer vor 80 Jahren in Nancy, hat er als Meister der Ambivalenzen sich auf einen Geburtstag nie ganz festlegen wollen. Von den Daten, die zur Auswahl stehen, entscheiden wir uns für den 4. April und gratulieren dem Meister der „moralischen Erzählungen“ in Frankreich.
ULF ERDMANN ZIEGLER
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