: Das paranoide Ich
Die neuen Aufsteigermythen über die jungen Internet-Millionäre versprechen: Leistung lohnt sich! Dabei ist persönliche Leistung in der „Neuen Ökonomie“ immer schwerer messbarvon BARBARA DRIBBUSCH
Der neue Held ist in den 30ern und ackert im 16-Stunden-Tag, um seine Firma im Internet-Geschäft voranzubringen. Sein Unternehmen ist an der Börse mindestens mit ein paar hundert Millionen Mark bewertet. Mit seiner success story schmückt er die Wirtschaftspresse in einer Reihe mit anderen neuen Helden, die ihm ähnlich erscheinen.
Mit der Internetbranche hat sich eine neue Popkultur entwickelt, voller Aufstiegsgeschichten von Jungmännern, die durch ihren Versandhandel im Internet oder eine Multimedia-Agentur innerhalb von kürzester Zeit zu Multimillionären wurden. „Schlaflos im Schlafsack“ titelt ein Wirtschaftsmagazin zu einer Geschichte von 50 – ausschließlich männlichen – Existenzgründern, und damit ist schon einiges gesagt: Jungunternehmertum und wirtschaftlicher Erfolg werden heute als eine Art alternativer Lebensentwurf verkauft.
Während früher die Leistungsverweigerer, die sich in Goa voll kifften, als Systembrecher galten, steigen heute die adrenalindurchfluteten Jungunternehmer, die sich aus Zeitmangel angeblich nicht mal eine Wohnung suchen können, zu neuen Helden auf. „Eine Krawatte brauchst du nur noch, um Busfahrer zu werden“, lautet ein Witz aus dem Silicon Valley. Die Botschaft ist: Nur wer sich nicht um die Regeln des alten Systems kümmert, hat ökonomischen Erfolg.
Die Aufstiegsmythen verraten damit zwar wenig Persönliches über die Gründer selbst, tragen aber umso mehr eine gesellschaftliche Botschaft in sich: Auf deine Leistung kommt es an! Auch du kannst es schaffen! Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. In der so genannten „Neuen Ökonomie“ rund um die Informationstechnologie verfällt der Wert des Wissens rapide. Die Aktienmärkte bewerten Unternehmenserfolg nach ihren eigenen Gesetzen. Die Folge: Es ist immer schwerer vorauszusehen, worauf der individuelle Aufstieg eigentlich beruht.
Der Zusammenhang zwischen persönlicher Arbeitsleistung, Einkommen und Vermögen ist nicht mehr greifbar. Einer der viel zitierten Shooting-Stars ist Paulus Neef, Gründer der Multimedia-Agentur Pixel Park. Das Unternehmen hat einen Börsenwert von rund vier Milliarden Mark. Auf Grund seiner Anteile anvancierte der 39-jährige Neef zwischenzeitlich zum Aktienmilliardär. Dabei machte die Agentur im vergangenen Jahr keine Gewinne. Doch in der Internetbranche zählt weniger die aktuelle Bilanz, sondern es gilt derjenige am meisten, der als Erster am Markt war und die größten Zukunftshoffnungen in sich vereinigt.
„Schnelligkeit ist der zentrale Faktor“, sagt Neef. Darin liegt der Unterschied zu den alten Mythen der Industriegesellschaft, die vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär erzählten: Damals war vor allem die Rede von Willensstärke, Begabung und harter Arbeit. Heute kommt noch etwas hinzu: Der Zeitfaktor spielt die entscheidende Rolle.
„Die Geschichte der Informationstechnologie ist die Geschichte von Händlern, die sich neue Nischen suchen“, meint der kalifornische Zukunftsforscher Paul Saffo. Aber wie findet man die Nischen? „Intuition entscheidet“, so Saffo. Doch wenn Schnelligkeit und eine kaum definierbare „Intuition“ entscheiden, ist beruflicher Erfolg schwer zu planen und abzusichern.
Die Unberechenbarkeit in der Neuen Ökonomie zeigt sich im Streit um den Fachkräftemangel. Trotz des Mangels finden manche IT-Spezialisten nach einer betriebsbedingten Entlassung keinen neuen Job, wenn sie die aktuellen Programmiersprachen nicht beherrschen. „Im Web-Bereich verfällt der Wert des Wissens in drei Monaten, so schnell wie anderswo in einem Jahr“, sagt dazu Günther Welsch vom Fachverband Informationstechnik in Frankfurt.
Wenn Wissen schnell veraltet, wird das Lebensalter zum entscheidenden Faktor für den beruflichen Erfolg – oder Misserfolg. „Mit 40 bist du draußen“, meint ein umgeschulter Online-Programmierer. Nur wer jung ist, schleppt noch keinen unnützen Wissensballast mit sich herum. Das Geburtsdatum ist aber alles andere als eine persönliche Leistung. Die heutigen Nachwuchsunternehmer nennt man denn auch treffend „High Potentials“: Entscheidend ist das „Potential“, also die Möglichkeiten, die andere in einer Person zu sehen glauben.
Doch diese Möglichkeitsökonomie erzeugt Stress und Unsicherheit für den Einzelnen. „Viele sind dafür nicht gemacht“, warnt Günter Voß, Arbeitssoziologe an der Technischen Universität Chemnitz. Die Unsicherheit lässt sich in Unternehmen mit so genannten „flachen Hierarchien“ beobachten, die angeblich den Mitarbeitern so viel Handlungsfreiheit zugestehen. Dort ackern die Beschäftigten in wechselnden und befristeten Projekten. Doch damit entscheidet jeder gelungene oder misslungene Kundenkontakt, jede gelungene oder misslungene Präsentation neu über den heimlichen Status des Einzelnen. Wo keine klaren Hierarchien herrschen, „kann sich schnell eine paranoide Atmosphäre entwickeln“, schildert ein Multimedia-Conceptioner, „man weiß nie genau, was übermorgen sein wird“.
Zur Paranoia gehört der Größenwahn. In vielen der neuen Unternehmen erhalten die Mitarbeiter einen Teil der Bezahlung in Optionen auf Firmenaktien. Das kann nach Ablauf der Sperrfristen zusätzliche Einkommen in Höhe von mehreren hunderttausend Mark oder sogar einer Million bedeuten, wenn der Aktienkurs in die Höhe klettert. Andererseits verlieren die Optionen drastisch an Wert, wenn die Kurse am Neuen Markt in die Tiefe sacken. Das zerrt an den Nerven.
Doch der Psychostress wird nirgendwo beklagt, denn „Lust auf Leistung“ ist das neue Motto. Die Botschaft lautet: Arbeit macht Spaß! „Boygroups“ nannte der Spiegel die Gründer rund ums Internet, so als handele es sich um eine neue Popgruppe. Im Glaubenssystem der Neuen Ökonomie wird Wettbewerbsstress mit dem Lustprinzip verknüpft. Genau diese Verknüpfung macht es so unschlagbar und verdrängt den alten Gerechtigkeitsdiskurs mit seiner Suche nach kollektiven Lösungen und politischer Kontrolle. Lust und Leistung statt Kontrolle und Kollektivismus!
Wer auf soziale Missstände wie die Massenarbeitslosigkeit verweist, stellt sich angesichts dieser neuen Aufsteigerideologie selbst in die Ecke der alten Bedenkenträger. Dabei ist nur der Diskurs über die Massenarbeitslosigkeit als kollektives Problem verschwunden, nicht aber die vier Millionen Erwerbslosen.
Angesicht einer Wirtschaft, die immer weniger beeinflussbar erscheint, können die neuen Aufsteigermythen daher auch als Versuch gelesen werden, wenigstens noch den Glauben an die Gestaltungskraft des Individuums zu retten. Weil die globalen Wissens- und Aktienmärkte zunehmend unkontrollierbar erscheinen, wird das Individuum aufgebaut als letzte Zuflucht, letzter Ort von Handlungsfreiheit und Kontrolle. Und damit überfordert.
Hinweise:In der „Neuen Ökonomie“ verfällt der Wert des Wissens innerhalb kurzer ZeitIn manchen jungen Aufsteigerfirmen gehört die Paranoia zum Größenwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen