: Post aus dem Diesseits
Bis in die Fünfzigerjahre wurden sie als Souvenirs verschickt: Die New YorkHistorical Society zeigt Aufnahmen von Lynchmorden an Afroamerikanern
Mitte Januar eröffnete in der Roth Horowitz Gallery auf New Yorks Upper East Side eine Ausstellung, die umgehend auf ein breites, wenn auch merkwürdig wortkarges Echo stieß. Unter dem schlichten Titel „Witness“, „Zeuge“, machte der Antiquitätenhändler und Sammler James Allen grausame Fundbilder zugänglich. Über Jahrzehnte hinweg hat Allen Postkarten und Fotos gesammelt, die zumeist an Afroamerikanern verübte Lynchmorde dokumentieren. Meist von professionellen Fotografen gemachte, häufig als Grußkarten stilisierte Erinnerungen an eine Zeit, als Selbstjustiz vor allem in den amerikanischen Südstaaten zum stolzen Selbstverständnis vieler weißer Amerikaner gehörte. Die Aufnahmen führen einen bis zur Hälfte dieses Jahrhunderts noch alltäglichen Rassismus vor, für den sich auch heute nur zögernd Worte finden.
Entsprechend schnell wurde die Privatgalerie für das ambitionierte Projekt zu klein. Nachdem sich über Wochen täglich wachsende Besucherschlangen gebildet hatten, sind die Exponate jetzt in der New York Historical Society zu sehen – wo sie in nicht weniger harschem Kontrast zum üblichen Programm stehen. „Without Sanctuary“ ist die Sammlung nun betitelt, was etwa „ohne Ruhestätte“ meint. Damit wird nicht nur das Schicksal der Ermordeten assoziiert, sondern auch die verstörende Wirkung auf den Betrachter.
Man muss sich etwas bücken und genau hinsehen, damit sich einem die auf den Postkarten abgebildeten, leicht überbelichteten Szenen erschließen. Menschen mit erregten Gesichtern posieren vor der Kamera und bilden dabei eine Schneise. In der Bildmitte wird der Anlass ihrer Hysterie sichtbar: Von einem Ast hängt an einem Seil der gefesselte, halb nackte Leichnam eines Mannes. Auf einem anderen Foto hält sich die Menge gedrängt im Hintergrund, nur einer lehnt lässig an einem Mast. Im Vordergrund hängt eine grotesk erstarrte Form, die erst auf den zweiten Blick als verkohlter menschlicher Torso erkennbar ist.
Die Fotos der entstellten Leichen sind mehr als nur ein Zeichen für besinnungslosen Hass. Die sparsamen, aber erhellenden Erläuterungen zu den einzelnen Fotos; die Tatsache, dass es sich wirklich um Postkarten handelt – viele tragen noch die süffisanten Kommentare der Absender –, all das verdichtet sich beim Gang durch die Ausstellung zu einer historisch komplexen Studie zum amerikanischen Rassismus. Schon die Verfügbarkeit der Zeugnisse als Ausstellungsstücke und ihre fast lückenlose Datierbarkeit verdanken sich ja der einst breiten Akzeptanz dessen, was hier dokumentiert wird. Die ältesten Aufnahmen sind aus den letzten Jahren des neunzehnten, die jüngsten aus den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Einige überlebten die Jahre still neben Hochzeits- und Urlaubsfotos in Familienalben.
Während die Besucher in New York bedrückt und stumm an den Exponaten vorbeischleichen, hört man auf einem der Monitore die Stimme des Sammlers selbst. Allen erzählt von seiner Odyssee, die ihn im Lauf der Jahre in den Besitz der Postkarten und auch in Kontakt mit denen brachte, die sie als Souvenirs wertschätzten. „In Amerika ist alles käuflich, sogar eine nationale Schande“, resümiert die Stimme, wann immer jemand an die Maustaste kommt.
Die Sprachlosigkeit angesichts dieser Bilder gilt vor allem den vergnügten, beinahe lasziven Blicken derer, die sich ohne jede Scham nach vollbrachter Tat verewigen ließen. Die offene Kumpanei im Gesichtsausdruck der Täter und Schaulustigen entlarvt auch den Augenzeugen hinter der Kamera. Und an diesen blinden, keinesfalls unschuldigen Fleck tritt gemäß der Dynamik eines jeden Fotos der heutige Betrachter. „Without Sanctuary“ läuft zunächst noch bis 9. Juli. Danach wird das Projekt möglicherweise als Wanderausstellung fortgesetzt. TOBIAS HERING
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