: Wild & silbern
Der Hering eine Delikatesse? Der unkundige Verbraucher mag es kaum glauben. Dieser Fisch kauert gewöhnlich in schmierigen Dosen oder wird zu Fischmehl zerschreddert. Dabei ist der silbrige Fette eigentlich sympathisch, ein echter Wilder, der sich jeder Aquakultur entziehtvon STEPHAN OPITZ
Der große Schwarm ist immer noch da: Rund zweihundert Arten sind in den nördlichen Weltmeeren zu zählen – clupea harengus, schlanke Fische mit seitlich zusammengedrückten Körpern, lebhaft grünem Rücken, Silberglanzseiten und Rundschuppen. Vom Brack bis in zweihundert Meter Tiefe vertragen sie alles Wasser. Was ihnen in letzter Zeit zusetzt – damit hier gleich Klarheit herrscht –, ist nicht mehr die Wahnsinnsmengenfischerei von Skandinaviern, Deutschen, Holländern, Belgiern, Briten, Franzosen, sondern die immer noch sorglose Zuleitung giftiger Scheiße in ihr Element.
Und was ist mit den Lachsen?, rufen dem Heringserzähler die Leser der Naturschutzseiten der bunten Blättchen zu – die werden doch gezüchtet, und damit ist die Bedrohung des Bestandes vorbei! Der Hering entzieht sich aber Anbau und pflegender Verfolgung. Steinbutt, Lachse, selbst Hummer und Langusten können in Aquakultur gezüchtet werden, nicht so der Gemeine Hering. Einstmals war er hier der Meeresspeisefisch schlechthin, verantwortlich für Aufstieg und Fall ganzer Küstenstriche, Garant von Handelsimperien. Weder er, der übrigens auch Atlantischer Hering heißt, noch seine 199 Verwandten schaffen das Leben im (noch so großen) Meereskäfig.
Die Verweigerung der Gefangennahme hat mit den ausschweifenden Zügen der clupea harengus in riesigen Schwärmen nördlich des 40. Breitengrades zu tun. Sie gelten weniger der Geselligkeit als dem Plankton; ein bisschen Einfluss auf die Schwarmbewegungen haben auch die Meeresströmungen. Und gelaicht wird ebenfalls im Schwarm: insgesamt beste Voraussetzung für periodische Schwankungen der Fänge in allen Fanggebieten. Wer’s nicht glaubt, gehe ins Kieler Institut für Meereskunde, Düsternbrooker Weg. Dort können er und sie den einzigen Heringsschwarm Europas im Aquarium seine Runden ziehen sehen. Es brauchte zwei Jahre, bis die aufwendige Biomechanik funktionierte, abhängig von ständig frischer Plankton- und Heringszufuhr.
Der Gemeine Hering verteilt sich seinerseits wieder auf zwei Stämme: die bis zu vierzig Zentimeter langen Hochseeheringe, die nur zum Laichen in Küstennähe kommen, und die kleineren Küstenheringe wie den Ostseehering. Folgerichtig unterscheiden die Skandinavier zwischen Sill (Atlantikhering) und Strömming (Ostseehering). Alle weitere Benennung hat mit Fangplatz und Reifezustand zu tun. Heringsschwärme bestehen immer aus Fischen gleicher Rasse, gleichen Alters und gleicher Größe. Wir unterscheiden: Herbstheringe (wie den schottischen Hering), Frühjahrsheringe (wie den norwegischen Hering), Fettheringe (fast mit der Pubertät fertig), Vollheringe (wie der Name sagt, voll Rohr geschlechtsreif), Ihlen (haben abgelaicht), Matjes (Fettheringe in gutem Ernährungszustand), Deutschen Nordseehering, Fladengrundhering (der Fladengrund liegt im Dreieck zwischen den Shetlands, Aberdeen und Bergen), Doggerbankhering (südlich von Fladen), Kanalhering (aus dem Nordostseekanal), Islandhering sowie schwedischen, dänischen, belgischen und französischen Hering.
Die Schwärme sind heute noch riesig, die Fische drängen sich manchmal gegenseitig aus dem Wasser, insbesondere bei den Laichzügen in Küstennähe und Meeresbuchten. Der Hering wird – nach Rasse unterschiedlich – bis zu 25 Jahre alt und mit vier bis sieben Jahren geschlechtsreif, Samen und Eier (Milch und Rogen) werden ins Wasser abgelegt. Ein Heringsweibchen legt fünf Millionen bis dreißig Millionen Eier.
„Der ganze Meeresarm füllt sich gewöhnlich so mit Fischen, dass manchmal die Schiffe feststehen und kaum mit angestrengten Rudern herauszubringen sind und die Beute nicht mehr mit einer künstlichen Vorrichtung gefangen, sondern ohne Weiteres mit der Hand gegriffen wird.“ Das schrieb Saxo Grammaticus um 1200 über den Heringsfang in den Meeresbuchten der Jütischen Halbinsel. Mir erzählte ein Fischer an der schwedischen Küste von Bohuslän mit schwankender Hand, dass „die Bucht vor Hering zittere“. Selbst heute kann man im April Angler an den Förden beobachten, die zwanzig Kilo in einer Viertelstunde an Land ziehen.
Wie wird clupea harengus gefischt? Steigt der Hering abends vom Grunde hoch in obere Wasserschichten, legt man ein Treibnetz aus. Am Tage wird dagegen ein Grundschleppnetz gezogen. Fahrzeug für die Heringsfischerei ist der Logger, ein Schiff von zirka vierzig Meter Länge und acht Meter Breite. Zur Überfischung führten die immer kleinmaschigeren Netze, die Echolotortung der Schwärme, der Zwang zum Massenfang mit immer größeren Schiffen, immer größeren Mengen, immer kleineren Preisen . . .
Hering wird heute mit wachsenden Anteilen zu Fischmehl verarbeitet als Futtermittel für die Aquakulturen. Zwischen 1977 und 1981 musste in der Nordsee ein striktes Fangverbot verhängt werden, dem Hering drohte die Ausrottung. Heute befindet sich der Bestand in der Nordsse wieder halbwegs in sicheren biologischen Bahnen.
Der große Schwarm sorgte einst für Weltreiche: Die Hanse ruhte auf Salz und Hering. Der Fettfisch war eher Massenspeise als Delikatesse. Mit Delikatessen beherrscht man keine Imperien, sondern allenfalls Landsitze. Doch die Westentaschendialektik ist nichts für den Hering, und das meiste, was ihm sonst in Mitteleuropa passiert, ebenfalls nicht. Lassen Sie, liebe Leser, deshalb Hände und Zungen weg von Bismarckheringen, ölig-schlierigen Matjesfilets, von Schwedenhappen und Dänensalat, von dem ganzen entgräteten und benzoesäuredurchzogenen Heckmeck. Frischen Hering kriegen Sie nur an der Küste, er darf nicht älter als fünf bis sechs Stunden sein. Die Alternative ist der Salzhering, der sofort nach dem Fang auf dem Logger gekehlte und in Salz im Holzfass gelagerte Hochseehering, vorzugsweise Fladengrund- oder Islandhering. Ignorante Fischhändler bezeichnen alles als Nordseehering.
Fragen Sie nach den richtigen Sorten, fragen Sie vor allem nach dem Zeitpunkt der Öffnung des Fasses – andernfalls kriegen Sie Salzhering in reichlich korrodierter Lösung. Was Sie jetzt mit Ihrem guten Hering tun? Vertrauen Sie auf Rezepte und Anweisungen aus Schweden, Dänemark und Norwegen, also dem Teil Europas, der wirklich etwas vom Hering versteht.
STEPHAN OPITZ, 49, ist Skandinavist,Germanist, kulinarischer Autor und imKieler Kultusministerium für „kulturelleGrundsatzangelegenheiten“ zuständig.
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