: Revoluzzer, ab nach Schwaben!
Wo ist der Unterschied zwischen dem 1. Mai in der süddeutschen Provinz und in Berlin? Ganz klar: In der Hauptstadt spielen Polizei und Journalisten mit. Selbst die taz macht bei dieser Traditionspflege keine Ausnahme
von RALPH BOLLMANN
Selbst auf dem kleinsten Dorf im tiefsten Schwabenland gibt’s in der Nacht zum 1. Mai Krawall. Das heißt dort zwar nicht so, und es regt sich niemand darüber auf. Aber am nächsten Morgen finden Hausbesitzer abgesägte Baumstümpfe vor, und Mobilien jeder Art sind nach der Walpurgisnacht ohnehin verschwunden.
Wen wundert’s, dass derlei Bräuche auch dem Berliner nicht fremd sind. „Revolutionär“ verbrämt, setzen die Zugereisten aus der süddeutschen Provinz die Traditionspflege in der Hauptstadt ungebrochen fort. Mit dem Unterschied, dass an der Spree die Polizei einschreitet. Das erhöht den Reiz der Sache und erleichtert die politische Überhöhung.
Was die Sache anstrengend macht, das ist die Penetranz, mit der sich die hauptstädtische Presse dem Ritual widmet, das sich alljährlich wiederholt, folglich ohne jeden Neuigkeitswert und daher nach allen Regeln des journalistischen Handwerks völlig uninteressant ist.
Je nach politischer Couleur beklagen die Blätter entweder die Zerstörungswut gewaltbereiter „Chaoten“ oder den „provokativen“ Einsatz der Polizei. Die Quantität der Zeitungsseiten steht in keinem Verhältnis zur Qualität der Debatte. Sie wurde um kein neues Argument mehr bereichert, seit dem legendären Kreuzberger Maikrawall von 1987 gleich ein ganzer Supermarkt zum Opfer fiel.
Auch die taz macht da keine Ausnahme. Sie beklagte „Auswüchse beim Polizeieinsatz“ (1999), einen „provokativen Polizeieinsatz“ (1998), den „Abschied von der Deeskalation“ (1997), einen „eklatanten Wortbruch der Polizeiführung“ (1996), das „unverhältnismäßige Vorgehen“ der Polizei (1995). Einzig 1994 mussten die Kollegen ernüchtert feststellen, der 1. Mai sei „weitgehend ruhig“ geblieben.
Dabei hatte die taz bereits 1988, im zweiten Jahr des Maispektakels, die „programmgemäße Kreuzberg-Randale“ nur noch mit gelangweiltem Unterton vermeldet. Im Jahr darauf stellte die Kommentatorin resigniert fest: „Der Kreuzberger Konflikt ist militärisch nicht zu lösen, nach keiner Seite.“ Dagegen verlief das Ritual 1990 so glimpflich, dass bereits der „Anfang vom Ende eines Rituals“ in Aussicht stand. Zu früh gefreut: Schon 1991 wurde der „Mythos neu aufgelegt“, und 1993 setzte sich das „Kreuzberger Brauchtum“ fort: „Autonome, Besoffene und Polizei bleiben sich treu.“
Das sollen sie ruhig tun, aber sie sollten nicht noch den den Rest der Stadt behelligen. Wenn der Tiergartener Baustadtrat über den geschundenen Tiergarten lamentiert, hört ja auch niemand hin. Und die Drohungen der Veranstalter, die Epigonen der längst versunkenen Techno-Kultur künftig andernorts aufmarschieren zu lassen, beeindrucken ja auch niemanden mehr. Und Verletzte gibt es neuerdings auch bei der Love Parade, von den Sachschäden ganz zu schweigen. Der frühere Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) tanzte trotzdem mit. Peinlich genug.
Und noch eine Parallele: In beiden Fällen behaupten die Veranstalter, es gehe um eine „politische“ Veranstaltung. Deshalb muss sich noch lange nicht jeder dafür interessieren. Auch die hauptstädtischen Journalisten sollten die Traditionspflege provinzieller Provenienz genauso gelassen behandeln wie ihre Kollegen in der schwäbischen Provinz.
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