piwik no script img

Die neue Lust am Ladendiebstahl

KLAUKAUFHÄUSER

Berliner Drogerieketten, Baumärkte, Lebensmittelläden und Gartencenter haben sich unlängst zu einem Securi-Club zusammengeschlossen: Mit modernen Videokameras, die eine 360-Grad-Zoomfunktion haben, dem Einsatz von Testdieben und Mitarbeiterschulungen wollen sie den Ladendiebstahl und die daraus resultierenden Milliardenverluste des Einzelhandels bekämpfen.

Der Securi-Club kennt seine Feinde sehr genau: Die Jugendlichen und die Hausfrauen, verbreiten die Unternehmer, haben das Klauen in Berlin zu einem Volkssport gemacht. Man muss sich das wahrscheinlich so vorstellen, dass die Jugendlichen und Hausfrauen stapelweise Kondome, Rasierklingen und Schokolade aus den Läden raustragen, um sich dann zu Hause mit dem Zeug vollzustopfen beziehungsweise die Beine zu rasieren.

Und vermutlich verscheuern die Hausfrauen die gestohlenen Waren auch auf dem Schwarzmarkt.

Zwei Päckchen Kondome und eine Dose Rasierschaum für 2,99 Mark? Man braucht mehr als ein paar Videokameras, um Ladendiebstähle erfolgreich zu bekämpfen: Man muss verstehen, was die Leute in einer Wohlstandsgesellschaft dazu bewegt, Dinge zu klauen, die sie auch so fast umsonst an jeder Ecke bekommen könnten.

Es ist der Zustand permanenter Überproduktion, der zwangsläufig einen Mangel an Erlebnissen mit sich bringt. Der Mensch braucht starke Erlebnisse und die Ladendiebstähle bieten die gesamte Palette von Gefühlen, die letztendlich viel wertvoller als alle Kondome der Welt sind: die Angst erwischt zu werden, die Freude zu entkommen und schließlich die Scham darüber, öffentlich bloßgestellt zu werden.

All das wünschen sich heimlich viele, und die in den Geschäften auf Tafeln angedrohte Strafe von lausigen hundert Mark erscheint da eher als Supersonderangebot.

Eine mir bekannte, durchaus wohlhabende Familie in Dresden zum Beispiel hatte in ihrem Badezimmer ein ganzes Sortiment aus der Drogeriekette Schlecker aufgereiht: Im Wesentlichen bestand sie aus Unmengen von Parfüms, die sie natürlich nie benutzten. Ein anderer Bekannter versuchte jedesmal, wenn er bei Kaiser’s einkaufen ging, ein kleines Fläschchen Weinbrand mitgehen zu lassen, obwohl er so etwas gar nicht trank.

Und auch ich selbst wurde einmal in einem Supermarkt erwischt: wegen einer Dose Gurkensalat, die ich gar nicht klauen wollte.

Damals lebte ich mit einem Dackel zusammen, den ich von meiner Exfreundin geerbt hatte. Der Dackel war sehr launisch und empfindlich. Einmal hatte er Geburtstag. Es kamen ein paar Freunde von mir von ihm kam eigentlich niemand, aber wir feierten zusammen die ganze Nacht.

Am nächsten Tag gingen wir, das heißt der Dackel und ich, zu Kaiser’s. Aus Protest nahm ich einen Gurkensalat aus dem Regal und gab ihn dem Dackel zum Fressen. Zwei Jahre später bekam ich einen Brief vom Polizeipräsidenten zu Berlin. Darin stand, dass das Verfahren gegen mich wegen des zu geringen Schadens eingestellt worden sei. Da hatte der Polizeipräsident vollkommen Recht: Von Milliardenverlusten konnte in meinem Fall nicht die Rede sein – der Dackel hatte vom Salat nicht mal die Hälfte gefressen.

Jetzt, nach so vielen Jahren, kann ich selbst nicht mehr nachvollziehen, warum ich das eigentlich damals getan habe und was für ein Protestgedanke mir seinerzeit durch den Kopf gegangen war. Wahrscheinlich war ich noch innerlich bei der Geburtstagsparty geblieben und dachte, dass der Dackel ja so gut wie gar keine Geschenke bekommen hatte.

Tatsache ist, dass der Mensch zu allem fähig ist und oft auch seltsame Bedürfnisse verspürt – das betrifft nicht nur Jugendliche und Hausfrauen. Eigentlich hat die gewinnorientierte freie Marktwirtschaft damit nie Probleme gehabt. Als zum Beispiel das neue menschliche Bedürfnis, ab und zu mal vom Dach zu fallen, entdeckt wurde, reagierten die Unternehmer sofort: Sie banden ein Gummiseil um das Bein des Konsumenten und kassierten beim Bungee-Jumping 200 Mark pro Sprung.

So ähnlich müsste man eigentlich auch die Ladendiebstähle bekämpfen – indem man spezielle Klaukaufhäuser errichtet und Eintritt nimmt. Und natürlich nicht gleich die Polizei rufen oder die Diebe von der „Berliner Wache“ auf schnellen Motorrädern verfolgen lassen, wie der Geschäftsführer des Securi-Clubs vorschlug.

Denn auf diese Weise könnten die Diebe leicht überfahren werden, und ohne Diebe gäbe es auch keinen Securi-Club. Und was sollen all die Berliner Drogerieketten, Baumärkte, Lebensmittelläden und Gartencenter denn bloß ohne einen Securi-Club machen? Der nicht mehr nötige Einsatz von Testdieben sowie die überflüssigen Mitarbeiterschulungen könnten gar zu einer Erhöhung der Arbeitslosenzahlen führen. Und auch die Videokameraanbieter hätten Nachteile zu verkraften.

Das möchte ich hier an dieser Stelle nur mal so zu bedenken geben. WLADIMIR KAMINER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen